Der Widersacher
mit mir zu treffen und eine Kleinigkeit zu essen?«
Sie zögerte. Im schwachen Licht des Armaturenbretts konnte er ihre Augen sehen.
»Hm, Detective …«
»Sie können ruhig Harry zu mir sagen.«
»Harry, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«
»Wirklich? Warum? Ich meine, es ist doch nur kurz auf ein Sandwich. Ich muss meiner Tochter ihre Suppe nach Hause bringen.«
»Na ja, weil …«
Sie sprach nicht weiter, und dann begann sie zu lachen.
»Was ist?«
»Ich weiß auch nicht. Nein, nichts. Doch, ich komme. Einverstanden.«
»Gut. Dann bis gleich.«
Er stieg aus und ging zu seinem Auto. Während der Fahrt zu Jerry’s Deli schaute er immer wieder in den Rückspiegel. Sie folgte ihm, aber halb rechnete er damit, dass sie es sich plötzlich anders überlegte und mit quietschenden Reifen links oder rechts abbog.
Aber das tat sie nicht, und wenig später saßen sie einander in einer Sitznische gegenüber. Im hellen Licht des Delis fielen ihm zum ersten Mal ihre Augen auf. Es war eine Traurigkeit in ihnen, die er bis dahin nicht bemerkt hatte. Vielleicht hing es mit ihrer Arbeit zusammen. Sie hatte mit der niedrigsten Form menschlichen Lebens zu tun. Mit den Sexbestien. Mit denen, die die Kleineren und Schwächeren missbrauchten. Mit denen, mit denen der Rest der Gesellschaft nichts zu tun haben wollte.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Fünfzehn, aber auf die dreißig zugehend.«
Sie grinste.
»Sie ist krank und war heute nicht in der Schule, und ich bin kaum dazu gekommen, mich um sie zu kümmern. War ein anstrengender Tag heute.«
»Leben Sie allein mit ihr?«
»Ja. Ihre Mutter – meine Ex – ist vor zwei Jahren gestorben. Und dann hieß es für mich plötzlich, eine Dreizehnjährige aufzuziehen, nachdem ich vorher lang allein gelebt hatte. War … interessant.«
»Das kann ich mir denken.«
Er lächelte.
»Ehrlich gestanden fand ich es durch und durch toll. Es hat mein Leben zum Besseren verändert. Ich weiß nur nicht, ob das auch für sie so ist.«
»Aber anders geht es nicht, oder?«
»Nein, genau das ist der Punkt. Sie muss sich mit mir abfinden.«
»Ich bin sicher, sie ist glücklich, auch wenn sie es nicht zeigt. In diesem Alter ist schwer zu erkennen, was in einem Mädchen vorgeht.«
»Allerdings.«
Er sah auf die Uhr. Jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er zuerst an sich gedacht hatte. Er käme frühestens um halb neun mit der Suppe nach Hause. Der Kellner kam und fragte, was sie trinken wollten, und Bosch sagte ihm, sie hätten es eilig und wollten auch gleich das Essen bestellen. Stone nahm ein halbes Putensandwich, Bosch bestellte ein ganzes und die Suppe zum Mitnehmen.
»Und Sie?«, fragte er Stone, als sich der Kellner entfernte.
Sie erzählte ihm, dass sie sich vor über zehn Jahren hatte scheiden lassen und seitdem nur eine feste Beziehung gehabt hatte. Sie hatte einen erwachsenen Sohn, der oben in der Bay Area lebte und den sie nur selten sah. Sie hängte sich voll in ihren Job im Buena Vista, wo sie seit vier Jahren arbeitete, nachdem sie in ihrem Leben eine neue Richtung eingeschlagen hatte. Sie war als Therapeutin auf die Behandlung narzisstischer Karrieretypen spezialisiert gewesen und hatte sich ein Jahr lang für die Behandlung von Sexualstraftätern umschulen lassen.
Bosch gewann den Eindruck, dass ihr Entschluss, ihr Berufsleben umzukrempeln und mit den verhasstesten Mitgliedern der Gesellschaft zu arbeiten, eine Art Buße war, aber er kannte sie nicht gut genug, um seinem Verdacht weiter nachzugehen. Es war ein Rätsel, mit dessen Lösung er sich noch gedulden müsste, falls er überhaupt die Gelegenheit dazu bekommen sollte.
»Was Sie da vorhin auf dem Parkplatz gesagt haben, das war übrigens sehr nett von Ihnen«, sagte sie. »Die meisten Cops finden, man sollte hergehen und diese Leute einfach erschießen.«
»Schon … aber nicht ohne vorherige Gerichtsverhandlung.«
Er lächelte, aber sie fand nichts Witziges an seiner Bemerkung.
»Jeder dieser Männer ist ein Rätsel. Ich bin eine Art Detektiv. Genau wie Sie. Ich versuche herauszufinden, was mit ihnen passiert ist. Menschen sind nicht von Natur aus böse. Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass Sie das glauben.«
Bosch zögerte. »Ich weiß nicht. Ich komme immer erst dazu, wenn bereits alles passiert ist, und darf dann aufräumen. Ich weiß nur eins: das Böse gibt es. Ich habe es gesehen. Ich bin nur nicht sicher, woher es kommt.«
»Und mein Job ist es, das herauszufinden.
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