Der Widersacher
Spitzname, wie alle ihn genannt haben.«
»Und wie war der?«
Über Pells Lippen spielte ein verhaltenes Lächeln. Er hatte etwas, das alle haben wollten, und daraus würde er einen Vorteil schlagen. Das hatte er im Gefängnis gelernt.
»Was bekomme ich dafür?«, fragte er prompt.
Darauf war Bosch vorbereitet.
»Sie könnten den Mann, der Ihnen das alles angetan hat, für immer hinter Gitter bringen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass er überhaupt noch lebt?«
Bosch zuckte mit den Achseln.
»Nur so eine Vermutung. In den Gutachten steht, dass Ihre Mutter siebzehn war, als sie Sie bekommen hat. Demnach war sie fünfundzwanzig, als sie sich mit diesem Typen zusammengetan hat. Ich schätze mal, er war nicht viel älter als sie. Inzwischen sind zweiundzwanzig Jahre vergangen … das heißt, er geht wahrscheinlich auf die sechzig zu und macht wahrscheinlich immer noch, was er damals schon gemacht hat.«
Pell starrte auf den Fußboden, aber vermutlich hatte er etwas vor Augen aus der Zeit, in der er diesem Mann ausgeliefert gewesen war.
Stone räusperte sich.
»Clay, wissen Sie noch, wie wir über das Böse gesprochen haben? Ob man so geboren wird oder ob man erst dazu gemacht wird? Dass zwar Dinge, die man tut, böse sein können, aber nicht die Person, die sie tut?«
Pell nickte.
»Dieser Mann ist böse«, fuhr Stone fort. »Sie brauchen ja nur zu sehen, was er Ihnen angetan hat. Oder diesem Mädchen. Er hat es mit seinem Gürtel stranguliert. Mit demselben Gürtel, mit dem er Sie geschlagen hat.«
Pell nickte wieder.
»Dieser Scheißgürtel hatte Buchstaben auf der Schnalle. Und er hat mich immer mit dieser Scheißschnalle geschlagen. Dieses Schwein. Irgendwann wollte ich nur noch, dass er mich nicht mehr schlägt. Es war weniger schlimm, einfach zu machen, was er von mir wollte …«
Bosch wartete. Es erübrigte sich, weitere Fragen zu stellen. Das schien auch Stone zu spüren. Nach einer Weile nickte Pell ein drittes Mal und fuhr fort.
»Alle haben ihn nur Chill genannt. Auch meine Mutter.«
Bosch notierte sich den Namen.
»Sie haben gesagt, auf der Gürtelschnalle waren Buchstaben. Waren das vielleicht Initialen? Welche waren es?«
»C. H.«
Bosch notierte es. Das Adrenalin begann zu wirken. Wenn er auch noch keinen vollständigen Namen hatte, kam er der Sache zumindest näher. Ihm schoss ein flüchtiges Bild durch den Kopf. Wie er die Faust hob und an eine Tür klopfte, nein, drosch. An eine Tür, die von einem Mann geöffnet würde, den alle Chill nannten.
Pell fuhr unaufgefordert fort.
»Als ich letztes Jahr die ganzen Berichte über den Grim Sleeper gesehen habe, musste ich sofort an Chill denken. Chill hatte auch solche Fotos wie dieser Typ.«
Grim Sleeper war der Name eines Serienmörders sowie der Spezialeinheit, die nach ihm gefahndet hatte. Der Mann wurde verdächtigt, mehrere Frauenmorde begangen zu haben, zwischen denen jedes Mal viel Zeit verstrichen war, fast so, als hätte er dazwischen eine Art Winterschlaf gehalten. Als ein Jahr zuvor ein Verdächtiger gefasst wurde, fanden die Ermittler Hunderte von Frauenfotos in seinem Besitz. Die meisten Frauen auf den Fotos waren nackt und nahmen anzügliche Posen ein. Die Ermittler hatten den Fall noch nicht abgeschlossen und versuchten immer noch zu klären, wer diese Frauen waren und was aus ihnen geworden war.
»Er hatte Fotos von Frauen?«, fragte Bosch.
»Ja, von den ganzen Frauen, die er gevögelt hat. Nacktfotos. Das waren seine Trophäen. Von meiner Mutter hat er auch Fotos gemacht. Ich hab sie gesehen. Er hatte eine von diesen Kameras, wo das Bild gleich fertig rauskommt, damit er den Film nicht zum Entwickeln bringen musste, denn sonst wäre er ja vielleicht erwischt worden. Das war noch, bevor es Digitalkameras gab.«
»Eine Polaroid.«
»Ja, genau. Eine Polaroid.«
»Das muss nicht unbedingt etwas heißen«, sagte Stone. »Das machen auch Männer, die Frauen nichts tun. Es ist eine Form von Kontrollausübung. Oder Besitzerstolz. Trophäen, die man sich an die Wand hängt, um seine Eroberungen festzuhalten. Es ist symptomatisch für Personen, denen Kontrolle über andere sehr wichtig ist, ein Phänomen, das in unserer heutigen Welt der Digitalkameras und Internetpornos immer häufiger zu beobachten ist.«
»Dann war Chill wohl so was wie ein Pionier«, bemerkte Pell. »Er hatte keinen Computer. Er hat seine Bilder in einer Schuhschachtel aufgehoben. Deshalb sind wir dann auch bei ihm ausgezogen.«
»Warum?«, fragte
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