Der Widersacher
Wie geht’s?«
»Ich komme gerade von einer Beerdigung.«
»Was? Von wem?«
»Niemand, den ich persönlich gekannt habe. Was Dienstliches. Wie läuft’s im Zentrum?«
»Gut. Ich habe gerade Pause.«
»Schön.«
Er wartete. Er wusste, sie rief nicht an, nur um die Zeit herumzubringen.
»Ich wollte nur wissen, ob du über gestern Abend nachgedacht hast.«
Tatsache war, dass Bosch völlig vom Fall Irving eingenommen gewesen war, seit er am Abend zuvor Robert Mason zur Rede gestellt hatte.
»Klar«, sagte er. »Ich fand es richtig schön.«
»Ich auch. Aber das habe ich nicht gemeint. Ich meine, was ich dir erzählt habe. Davor.«
»Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht recht, was du meinst.«
»Das mit Shawn. Meinem Sohn.«
Langsam wurde ihm unbehaglich. Er war nicht sicher, was sie wollte.
»Ähm … ich weiß nicht recht, Hannah. Worüber hätte ich mir Gedanken machen sollen?«
»Ach, nichts, Harry. Ich muss jetzt Schluss machen.«
»Halt, Hannah, warte. Du bist diejenige, die angerufen hat. Leg also jetzt nicht gleich auf. Vor allem nicht, wenn du sauer auf mich bist. Sag mir einfach, worüber ich mir wegen deines Sohns Gedanken machen soll.«
Bosch spürte, wie sich etwas in ihm zusammenkrampfte. Er musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der letzte Abend für Hannah eine Art Mittel zum Zweck gewesen war und dass dieser Zweck nicht sie beide waren, sondern ihr Sohn. In Boschs Augen war für ihren Sohn der Zug abgefahren. Er hatte mit zwanzig ein Mädchen unter Drogen gesetzt und vergewaltigt – eine bedrückende und grauenhafte Geschichte. Er hatte sich schuldig bekannt und war ins Gefängnis gekommen. Das war vor fünf Jahren gewesen, und seitdem drehte sich Hannahs Leben nur noch um die Frage, woher der Impuls dazu gekommen war. War es genetisch bedingt, war es seine Natur, war es eine Folge seiner Erziehung? Für Hannah war es ihre eigene Form von Gefängnis, und Bosch hatte Mitleid mit ihr gehabt, als sie ihm die unschöne Geschichte erzählte.
Inzwischen war er sich jedoch nicht mehr sicher, ob sie außer seinem Mitgefühl noch mehr von ihm wollte. Wollte sie von ihm hören, dass die Tat ihres Sohns nicht ihre Schuld war? Oder dass ihr Sohn nicht böse war? Oder erhoffte sie sich von ihm irgendeine Form von konkreter Hilfe, was die Inhaftierung ihres Sohns betraf? Bosch wusste es nicht, weil sie es ihm nicht gesagt hatte.
»Nein, es ist wirklich nichts«, sagte sie. »Entschuldige bitte. Ich wollte nur nicht, dass vielleicht alles daran scheitert, mehr nicht.«
Das machte es für Bosch ein bisschen leichter.
»Mach dir da mal keine Sorgen, Hannah. Es gibt keinen Grund, irgendwas zu überstürzen. Wir kennen uns erst ein paar Tage. Wir sind gern zusammen, aber vielleicht sind wir alles ein bisschen zu schnell angegangen. Warten wir doch einfach ab, wie sich die Dinge weiter entwickeln, und lass diese andere Geschichte erst mal aus dem Spiel. Vorerst jedenfalls.«
»Aber das kann ich nicht. Er ist mein Sohn. Kannst du dir auch nur annähernd vorstellen, wie es ist, mit dem, was er getan hat, zu leben und an ihn dort im Gefängnis zu denken?«
In seinem Bauch zog sich wieder etwas zusammen, und ihm wurde klar, dass er bei dieser Frau einen Fehler gemacht hatte. Er hatte sich von seiner Einsamkeit und seinem Wunsch nach einer Beziehung leiten lassen. Er hatte so lang gewartet, und jetzt hatte er eine falsche Wahl getroffen.
»Hannah«, sagte er. »Ich stecke hier gerade mitten in der Arbeit. Können wir darüber vielleicht später reden?«
»Wenn du meinst.«
Sie sagte es kalt und zornig. Genauso gut hätte sie sagen können,
Leck mich doch, Bosch.
Die Botschaft war die gleiche. Aber er tat so, als hätte er sie nicht mitbekommen.
»Okay. Ich rufe dich an, sobald ich hier fertig bin. Wiedersehen, Hannah.«
»Wiedersehen, Harry.«
Bosch beendete das Gespräch und hätte das Handy am liebsten aus dem Fenster geworfen. Der Wunsch, Hannah Stone wäre die Frau, die er in das Leben bringen könnte, das er mit seiner Tochter teilte, war ein Irrtum gewesen. Er hatte übereilt gehandelt. Er hatte übereilt geträumt.
Er steckte das Handy in seine Jackentasche und vergrub seine Gedanken an Hannah Stone und eine gescheiterte Liebe so tief, wie George Irving gerade in der Erde verscharrt worden war.
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26
B osch betrat das leere Abteil und sah sofort den Stapel Umschläge auf Chus Schreibtisch. Er stellte seinen Aktenkoffer ab, ging zu Chus Tisch und verteilte die Umschläge über
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