Der Widerschein
Papiere, der Herr dahinter, nass, aber lebendig, Gott sei Dank!
Gerlach saß auf einem Schemel und versuchte sich zu erinnern, doch seine Gedanken zogen sich durch die Unruhe immer wieder zurück – er konnte einfach keinen Anfang finden. Jemand wusch ihm das Blut aus dem Gesicht und reichte ihm einen Becher Wasser.
Dann wurde es still.
Gerlach sah in den Verkaufsraum, er selbst saß in der Werkstatt. Alle Anwesenden versammelten sich um etwas, wandten ihm den Rücken zu – da durchfuhr es Gerlach! Er ließ den Becher fallen und drängte sich durch bis zum Tisch. Reitinger, sein Nachbar linker Hand, stand da, wo Gerlach tags zuvor gestanden hatte. Sobald ein neues Kunstwerk bei Gerlach auftauchte, wurde es von Reitingers Augen geprüft und nur, wenn der weder Interesse noch Geld noch Platz hatte, sortierte es Gerlach in die vorhandene Ordnung ein oder verkaufte es an einen seiner Kuriere, die zwischen den größeren niederländischen Städten regelmäßig verkehrten.
Für Bros’ Werke hatten allerdings weder seine Zwischenhändler noch Reitinger je viel übriggehabt – obwohl Gerlachs Nachbar Ölgemälde sehr schätzte; Zeichnungen hatte er noch nie gekauft.
Und diese aufgeweichten Fetzen hätte Gerlach keinem seiner Kunden angeboten, schon gar nicht Reitinger!
Jetzt aber nahm dieser eine Zeichnung nach der anderen behutsam zur Hand: Selbst die verkohlten oder durchnässten Überreste behandelte er wie pures Gold, und die umstehende Menge folgte seinen Blicken ehrfürchtig.
Nur wenige Bilder waren durch Feuer und Löschwasser komplett vernichtet worden, aber Gerlach erkannte mit Erleichterung, dass jenes Bild zerstört war, an welches er sich noch schemenhaft erinnerte und das in ihm eine nie geahnte Angst entfacht hatte.
Grauenhaft – er wollte nicht daran zurückdenken.
Bevor sich die Erinnerung verdichten konnte, zog Reitinger ihn glücklicherweise an den Tisch heran. Dessen Augen funkelten.
* * *
Reitinger kaufte alle Zeichnungen.
Gerede von mehreren hundert Münzen sprang von Mund zu Mund, obwohl Gerlach darauf bedacht war, das Geschäft unter vier Augen abzuschließen.
Selbst der Name Bros drang nach außen: Nein, der Bros aus der Nachbarstadt! Dass aus dem einmal was geworden sei! Gerlach habe dessen Werke noch nie für große Kunst gehalten – aber nun sei Bros wohl ein gemachter Mann.
Verständlicherweise konnte Gerlach den Tag über keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Er aß und trank wenig, verbrachte die Zeit allein in seiner hinter dem Verkaufsraum gelegenen Werkstatt. Die Magd solle Kundschaft oder Besuch abweisen und auf morgen vertrösten – außer Bros selbst, wenn der denn käme.
Nicht alle Zeichnungen hatte Gerlach gesehen, nur bis zur zweiten war er gekommen, und Gott war’s gedankt, dass die Flammen dieses Bild mit sich gerissen hatten. Der Tod, der leibhaftige Tod hatte ihm ins Gesicht gestarrt und auf ihn, auf Gerlach persönlich gezeigt!
Ein alter Mann, umgeben von Schatten, seinen letzten Atemzug ausstoßend.
Allein, allein und verlassen!
Allein, verlassen und verwahrlost!
Beim ersten Betrachten war Gerlach zurückgewichen und gestürzt – beim zweiten Versuch erstarrte er. Das Bild sog ihn auf, nahm ihm seinen Atem, erstickte ihn beinahe – so real war ihm diese Zeichnung erschienen, so sehr war Gerlach in diesen simplen Linien aufgegangen.
Schon hatten sich seine Lippen auf das letzte Ausatmen vorbereitet.
Nein!
So wollte er nicht enden!
So hatte er sich sein Lebensende nicht vorgestellt!
Das war es nun also: das erste Vorzeichen des Todes! Jetzt war er gefährdet, er wusste es! Aber dies war Gerlach eine Lehre; von nun an würde er besser handeln: in Demut und mit Anstand. Immer würde er nun den Armen geben, seine Magd nie mehr schlagen, jeden Sonntag in die Kirche gehen und nie wieder heucheln, lügen oder betrügen, Gott sei gepriesen.
Nun saß Gerlach am Tisch und betrachtete nacheinander die Werke aus Bros’ Bilderkiste. Von denen hatte Reitinger nicht eines gekauft, obwohl dort unter jedem Werk der Name Bros geschrieben stand. Die Bilder waren schön; sie zeigten Landschaft im Winterlicht, karg und kalt, aber freundlich.
Mit einem Blick war Gerlach klar, dass diese Bilder und jene Zeichnungen nicht vom selben Künstler stammen konnten. Schnell ärgerte er sich, dass er nicht wenigstens eine der Zeichnungen behalten hatte – am Abend tobte er: Warum hatte er sie überhaupt so schnell und unüberlegt hergegeben? Was für eine
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