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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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den Ledereinband.
    Schon auf der ersten Seite stutzte Beuningen: Das Buch war auf Latein geschrieben! Wer schrieb denn in diesen primitiven Bevölkerungskreisen auf Latein? Niemand; außer – das Buch gehörte einem Mann der Kirche!
    Beuningen durchfuhr es: Hatte er einen Geistlichen gerichtet? In seiner Erinnerung sah keiner der Erhängten wie ein gläubiger Christ aus. Zum Glück war es, wenn überhaupt, nur ein Deutscher gewesen. Aber das konnte trotzdem Folgen haben! Allerdings hatte Beuningen durch das kurze Verfahren viel Geld gespart – Geld, welches die Stadt für derlei aufwendige Untersuchungen nur sehr ungern bereitstellte.
    Man würde ihm den Fehler verzeihen – was trieb sich ein Geistlicher auch mit solchem Gesindel herum? Oder war er gar kein Teil davon?
    Vielleicht war er dieser Bande zum Opfer gefallen!
    Beuningen schüttelte den Kopf.
    Der namenlose Schreiber beschrieb eine Reise: entlang eines gewaltigen Flusses, vorbei an endlosen Weinbergen, über dicht bewaldete Hügel und – Beuningen stutzte erneut – ihrem Ziel: dem gelobten Land, der neuen Welt.
    Wie passte das zusammen?
    Piets vortreffliche Ausführungen stellten ein doch gänzlich anderes Bild dar.
    Der Schreiber dieser Zeilen vermittelte den Eindruck, dass es sich um harmlose Auswanderer handelte. Zwei Familien, die sich mit Freunden und Bekannten zusammengetan hatten und bereit waren, alles hinter sich zu lassen. Menschen, die dem Elend des alten Kontinents entfliehen wollten und ihr Glück auf der anderen Seite der Welt zu finden glaubten.
    Arme und einfältige, aber im Grunde gutmütige Seelen.
    Beuningen las erneut.
    Zweifel regten sich in ihm. War diese Geschichte etwa eine Art Tagebuch, eine Chronik der Reisenden? Aber das stellte ja Piets Geschichte vollkommen in Frage! Was, wenn es keine umherziehenden Mordgesellen waren, sondern einfache Menschen?
    Aber: Auswanderer hätten sich sicher als solche ausgewiesen.
    Beuningen ließ das Buch sinken, richtete seinen Blick in die Schatten seines Schlafzimmers.
    Woher kamen jene Anschuldigungen?
    Wer hatte die Menschen verhaftet?
    Wer hatte das Falschgeld bei ihnen gefunden?
    Bei wem begann diese merkwürdige Geschichte?
    Unter Umständen hatte er falsch geurteilt, und es war alles ein Irrtum, ein Justizirrtum!
    Beuningen erbleichte. Eine Gruppe von Auswanderern, hingerichtet, ohne Prozess! Dafür konnte letztlich er selbst verantwortlich gemacht werden; ja sogar gehängt, sollte es sich herumsprechen, wie fahrlässig er das Verfahren gehandhabt hatte! Er, ein ehrwürdiger Richter, hatte sich zu einem vorschnellen Urteil hinreißen lassen und damit zwei Familien ausgelöscht, aufgrund bloßer Vermutungen!
    Aber wie passte dies alles zu dem Falschgeld und den misshandelten Jungen? War es tatsächlich Falschgeld? Wo war der Kläger, wo der Beweis? War denn vielleicht doch ein Geistlicher unter den Angeklagten gewesen? Beuningen erinnerte sich nicht, eine Kutte oder eine Bibel gesehen zu haben. Aber vielleicht fand sich ja noch etwas in den Wagen.
    Beuningen las noch einmal; aber das lateinische Tagebuch gab keine Antworten: Es berichtete in bildhafter Sprache von Sehnsucht nach Freiheit, schlimmen Entbehrungen, Hunger, Eindrücken von Land und Leuten, von Hoffnung, Glaube und Liebe. Insgesamt enthielt es viele Bibelzitate, Beuningen hatte ein Auge für solche Dinge – aber nicht einen einzigen Hinweis auf verbrecherische Machenschaften! Es war zum Verzweifeln.
    Verwirrt legte der Richter das eine Buch weg und nahm das andere zur Hand. Fast doppelt so groß wie das erste, dabei dünner und zerfranster, es schien mehr eine Blattsammlung als ein Buch zu sein. Zudem enthielt es keinerlei Schrift oder sonstige sprachlichen Zeichen. Stattdessen sprangen Beuningen leuchtende Zeichnungen ins Gesicht.
    Bett und Schlafzimmer verschwanden hinter den Seiten.
    * * *
    Beuningen fand sich plötzlich auf einer kleinen Brücke wieder, die über einen plätschernden Bach führte; er blickte nach Westen, sah der dort untergehenden, rot und warm leuchtenden Sonne hinterher; seichter Wind spielte mit seinen Haaren und Kleidern. Bäume strahlten in Gold und Rot, streuten große Blätter auf Weg und Wasser. Der Weg wuchs zur Straße, legte sich in eine weite Ebene; Bach, Brücke und Bäume wichen schmalen Gräben und Graslandschaft. Zaunlose Wiesen erblühten, trieben Kuhherden, Baumgruppen und Gehöfte aus und erstreckten sich von einem Horizont zum nächsten, umgeben vom blauen Himmel und die Sonne

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