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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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umspielenden Wölkchen. Kutschen und Fußgänger zogen vorbei, Menschen grüßten, lachten, schenkten ihm Äpfel oder Münzen, verschwanden vorne wie hinten. Sand knirschte unter seinen Füßen, quietschte, platschte und rauschte, als die Nacht mit Regen hereinbrach. Ein Baum spannte sich zum Schutz aus; darunter brannte ein Lagerfeuer und eine Handvoll Menschen saßen, lagen und schliefen drumherum. Tropfen fielen durch das Blätterdach und in das prasselnde Feuer; schmale Gesichter leuchteten rot und golden im Feuerschein auf; Pferde und Ochsen schnaubten unsichtbar.
    Lange verharrte Beuningen, sah von einem zum anderen: gut fünfzehn Menschen saßen beisammen – Männer, Frauen und Kinder –, hielten sich im Arm, flüsterten, um die schon schlafenden Kinder nicht zu wecken. Wie vertraut ihm diese Menschen vorkamen, wenn sie seinen Blick erwiderten, ihm zulächelten, ihn einluden, sich zu ihnen zu setzen, zu wärmen, ein Teil ihres Zuges zu werden. Beuningen trat näher, die Wärme nahm zu; jetzt erkannte er die Gesichter: Dort schlief Lisa in den Armen eines bärtigen Riesen, Marte und Christjan lugten schlaftrunken unter einer Decke hervor, der Mann mit dem deutschen Akzent, die weinenden Frauen – und Piet. Er saß ganz am Rand der Runde und stocherte mit einem Stab im Feuer herum, so dass gelegentlich gewaltige Funkenschwärme aufstoben, gleich Goldstaub zum Himmel auffuhren und als feiner Ascheregen auf die Gemeinschaft rieselte.
    Je länger und genauer Beuningen hinsah, desto mehr verschwamm alles: Die vordergründige Harmonie des Bildes, die freundlichen Farben und Formen, das wärmende Licht – all diese Dinge wichen zurück, lösten sich auf, je länger Beuningen sie betrachtete.
    Hände wurden zu Füßen, Kinder verwandelten sich in Karren, Bäume sahen plötzlich aus wie Menschen; Wurzeln und Äste wucherten und schlangen sich schleichend um Mensch und Tier, durchstießen Haut und Haar, verwickelten die Körper in Gewänder aus Blättern und Gestrüpp; Flammenhände griffen ins Dunkel und zerrten Glieder und Leiber ins Feuer, verschluckten sie; Schatten fluteten und ertränkten die sichtbaren Überreste, fraßen sich ins Licht hinein, nagten am Feuer; Glut und Funken wurden kleiner, die Flammenhände zerfielen zu Kinderfäustchen, schwach und ungelenk, warfen sichtlich schrumpfende Umrisse in die Schatten hinein – und erloschen scheinbar.
    * * *
    Mit dem Sonnenaufgang erwachte Beuningen.
    Schweiß rann ihm aus den Haaren, Tränen aus den Augen.
    Er hatte dies alles nicht nur gesehen, sondern getan, gespürt, erlebt!
    Die verkrampften Finger umklammerten noch immer das Buch – er schleuderte es von sich, sprang auf, stolperte ohne Stock aus dem Haus, tauchte im Hof Kopf und Hände in eine Wassertonne. Tropfnass rannte er an seiner Magd vorbei zurück in die Schlafstube, griff die Bücher, stopfte diese in den Küchenherd.
    Keuchend starrte Beuningen dem Papier hinterher, bis die Flammen alles verzehrt hatten.
    Bilder stoben durch seinen Kopf – Bilder, in denen aus einfachen Menschen Monster wurden; Bilder, die ihn bis zum Ende seines Lebens quälen wollten. Beuningen erinnerte sich: Die ausgemergelte Gemeinschaft saß um ein kleines Feuer versammelt, über dem ein Braten hing. Aber dieser Braten war zu groß für ein Ferkel, zu klein für ein Schwein, für einen Hund hatte es einen zu runden Kopf, zu deutliche Glieder, und für ein Kalb war es seiner Ansicht nach viel zu schmächtig – es schien ein Mensch zu sein. Und durch den niedrigen Schein des Feuers sah Beuningen bei genauerem und längerem Betrachten den Hunger der Menschen; gierige Fratzen, die nach Fleisch lechzten.
    Auch ein anderes Bild quälte Beuningen – je stärker er versuchte, nicht daran zu denken, desto mehr zog ihn die Erinnerung zurück.
    Ofen und Haus versanken, ertranken in Dunkelheit und Feuerglanz.
    Im Schein der Flammen sah er Männer einen Kessel einschmelzen, der als glühende Masse aufleuchtete, durch winzige Kanäle in kleine Kreise floss und sogleich bedeckt wurde. Durch das Flackern von Feuer und flüssigem Metall erschienen in den Gesichtern bizarre Konturen – zweifellos Gesichter des Teufels! Aus den Schatten blitzten leuchtende Punkte auf – gleich drohenden Augen! –, die zu Beuningen herüberspähten und, so er ihren Blick suchte, im Nichts verschwanden.
    Neben den Männern kauerte eine dunkle Gestalt mit einem Wassereimer, aus welchem sie endlos Münzen zog und in Säcke abzählte.
    Deutlich hörte

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