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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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zuvor hatte ihm ein Urteil größere Gewissensbisse bereitet. Nicht, dass er nicht schon mal falsch geurteilt hatte – allerdings nicht in solch einem Umfang! Dazu diese Bilder, die in seinem Kopf wüteten, ihn seitdem jede Nacht im Traum heimsuchten; Gesichter, die aus allen Teilen der Dunkelheit auf ihn zufuhren, die schrien und flüsterten: Mörder, Mörder!
    Eine Woche später enthoben die Stadtherren den derzeitigen Richter Beuningen auf Grund des ausführlichen Berichts seines pflichtbewussten Assistenten Jansen seines Amtes. Man erklärte ihn nicht nur für geisteskrank, sondern für hochgradig gemeingefährlich und ließ ihn noch am gleichen Tag unter Ausschluss der Öffentlichkeit foltern, gestehen und hinrichten.
    Noch Wochen nach Beuningens Verschwinden kursierten zahlreiche Gerüchte um den ehemaligen Richter: Einige einfältige Gemüter vermuteten, die Seelen aller von Beuningen unschuldig Verurteilten seien bereit gewesen für eine Vergeltungstat; wahrscheinlicher sei aber, dass sein gewissenhafter Assistent Jansen die Sache eingeleitet habe; zuletzt glaubte man, der Richter sei zufällig durch magische Artefakte und Zauberbilder seines Verstandes beraubt worden, was sich am besten mit den Opfern seines letzten Falles in Verbindung bringen ließ.
    Kurz erinnerten gastierende Händler an Vorfälle, in denen Menschen durch das Betrachten von Bildern in kürzester Zeit wahnsinnig geworden waren – aber das lag Jahre zurück; da gab es bestimmt keinen Zusammenhang.

Fünftes Kapitel
    O bwohl der letzte große Friedensvertrag in Europa den Nutzen von Innenpolitik, Vaterlandsliebe und Statistik vorantreiben sollte, blieben die tatsächlichen Umstände nahezu unverändert. Wie in den meisten Kulturen der neuen Zeit gründete auch das niederländische Handelssystem sich nicht allein auf rentablen Strategien, präzisen Analysen oder gar obskuren Methoden, sondern beruhte seit Generationen vornehmlich auf passenden Verwandtschaftsverhältnissen.
    Da der König seinen Titel nur an den erstgeborenen Prinzen vererbte, blieben auch Betriebe, Kartelle und Ämter stets in Familienbesitz und bestätigten so die Ansicht, dass mangelnde Kenntnisse und fehlendes Interesse durch traditionelle Verfahren, akkurate Blutlinien oder zumindest gelegentliche Gefälligkeiten perfekt ausgeglichen werden konnten.
    Diese Vorgehensweise hatte sich bewährt – obwohl sie natürlich nicht immer zu Erfolgen, sondern mitunter zu hartnäckigen Konflikten und gewaltigen Erbfolgekriegen führte.
    Das wichtigste Argument für die Fortführung dieses Systems lag in der Tradition, das Alte zu ehren und das Neue reifen zu lassen. Man ersparte sich die Arbeit unnötiger Einwände und löste Differenzen wie gewohnt auf außenpolitischem Wege.
    Unerlässlich war dabei eine sorgfältige Familienplanung, die nicht nur die nächsten Nachkommen mit einbezog, sondern auch Vettern, Cousinen und sonstige Anhängsel im Auge behielt, die eventuelle Besitzansprüche geltend machen konnten. Zuletzt war es ratsam, diese Aufmerksamkeit auch seinen Nachbarn, Konkurrenten und Bekannten zukommen zu lassen, je nachdem, ob man seinen Besitz schützen oder erweitern wollte.
    Ein Wechsel oder Ende jener Umstände war kaum in Sichtweite. Selbst das zufällige Ausscheiden ganzer Dynastien überstand diese Art der Vorzimmerpolitik mühelos: Verlorene Posten blieben nur in den seltensten Fällen über längere Zeit hinweg unentdeckt.
    * * *
    Wenige Tage nach Beuningens Ausscheiden wurde Jansen von der versammelten Stadtverwaltung als neuer Richter bestätigt.
    Seine erste Amtshandlung verpflichtete ihn dazu, die Angelegenheit der Falschmünzer pro forma auf mögliche Unstimmigkeiten zu untersuchen. Da der ehemalige Richter Beuningen allerdings nahezu alle Beweismittel vernichtet, außerdem einen Berg unerledigter Arbeit hinterlassen hatte und selbst während Jansens kurzem Beförderungsverfahren weitere Anliegen hinzugekommen waren, ließ er es bleiben. Zufrieden strich Jansen über die geschlossene Akte, trug sie in die Bibliothek und fügte sie in den für gelöste Fälle vorgesehenen Regalboden ein.
    Der mit Büchern, Dokumenten und Akten gefüllte Raum war schon zu Beuningens Zeiten Jansens ganzer Stolz gewesen; er, als Assistent von Beuningen, war mit der Verwaltung sämtlicher Urteile, Unterlagen und Schriftstücke betraut worden. Ein halbes Dutzend schmaler Regale spaltete den länglichen Raum in winzige Nischen, deren Längsseiten voller akkurat beschrifteter

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