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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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Junge nicht, wie es die alte Magd mit Beuningen zu jeder Gelegenheit getan hatte, in sinnlose Gespräche und überflüssige Diskussionen. Besser noch: Man musste Ferdinand nicht einmal auf notwendige oder dringliche Aufgaben aufmerksam machen – er erledigte sie, noch bevor Jansen daran denken konnte, dass sie erledigt werden mussten.
    Allein zur Übermittlung eiliger Briefe hatte Jansen dem Jungen einige Notizen zukommen lassen – immerhin war Ferdinand verständlicherweise durch die Vielzahl an Aufgaben für Jansen nicht immer ausfindig zu machen, was dem Richter im Prinzip sehr recht war: Ferdinand konzentrierte sich auf seine Arbeit, damit er, Jansen, sich voll und ganz auf die seinige konzentrieren konnte.
    Mehr war von seiner Seite aus für ein optimales Zusammenleben ja auch nicht nötig.
    Flora drehte sich kurz um, besah Ferdinand, wandte sich wieder zu Jansen und fiel vor diesem auf die Knie. Unter Weinen und Schluchzen erfuhr Jansen weitere sorgenvolle Details: Wie schlecht es der Familie ging, dass sie auch für weniger Geld arbeiten würde, dass es in einem so großen Haus doch sicher Bedarf gab für eine weitere Hilfskraft.
    Ferdinand wusste die Arbeiten der Magd gut zu erledigen, die Stimmung im Richterhaus hatte sich dadurch deutlich gewandelt – in Jansens Arbeit hatte sich trotzdem eine unübersehbare Unsicherheit eingeschlichen.
    Seit seinem Amtsantritt versank der richterliche Arbeitstisch unter Büchern und Notizblättern; ungeöffnete Briefe türmten sich neben aufgeschlagenen Registern, täglich kamen weitere Anliegen hinzu. Die sonst so bewährte Ordnung der Bibliothek ließ zu wünschen übrig; der Lesetisch verschwand vollständig unter Akten und Papieren. Mittlerweile verwechselte Jansen nicht mehr nur Namen und Anliegen, sondern auch Termine, Beweismittel und Urteile.
    Zu seinem eigenen Bedauern hatte Jansen die Menge und Intensität der übernommenen Aufgaben viel zu leichtfertig unterschätzt.
    Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung seines Kopfes signalisierte Jansen Ferdinand, den Raum zu verlassen.
    Zunächst hatte Jansen bloß vorgehabt, Flora mit einigen Münzen abzuspeisen – mit der Zeit würde er seine Aufgaben allein in den Griff bekommen.
    Kaum jedoch, dass Ferdinand die Tür von außen geschlossen und Jansen in den Beutel mit den Münzen gegriffen hatte – schon änderte der Richter seine Meinung.
    Behutsam erhob er sich und trat vor seinen Schreibtisch, half Flora beim Aufstehen und ließ sie auf dem Stuhl vor dem Tisch Platz nehmen.
    Es gebe in der Tat einen Bedarf; allerdings in Bezug auf Arbeiten, die sowohl besondere Fähigkeiten als auch äußerste Diskretion erforderten.
    Voraussetzung dafür sei, dass sie lesen und schreiben könne.
    Sei dies zutreffend?
    Flora nickte zaghaft.
    * * *
    Zu Beginn seiner Amtszeit war es Jansen noch unangenehm gewesen, jemand anderes während seiner Abwesenheit in seinen Arbeitsraum und seine Bibliothek eintreten zu lassen. Wann immer er ging, wurden beide Zimmer von ihm sorgsam verschlossen; Ferdinand sollte auf keinen Fall dort saubermachen, er könnte ja versehentlich wertvolle Dokumente beschädigen oder sogar zerstören.
    Nach den ersten Wochen mit Flora an seiner Seite konnte er sich überhaupt nicht mehr vorstellen, wie er früher ohne Unterstützung zurechtgekommen war. Während Ferdinand täglich mehr aus seinem Bewusstsein verschwand, nahm Flora in Jansens Denken bald einen ganz besonderen Platz ein.
    Die vielen Prozesse, Verhandlungen und Verurteilungen brachten es für den neuen Richter mit sich, dass er tagsüber kaum Zeit fand, sich mit den Angelegenheiten auf seinem Schreibtisch genauer zu befassen. Da er den Großteil des Tages außer Haus war und erst spätabends heimkehrte, um die nötigen Dinge für den folgenden Tag vorzubereiten, nahm die leidliche Unordnung immer mehr überhand – nicht zuletzt durch die regelmäßigen eiligen Briefzustellungen oder Unmengen von spontanen Anfragen aus der Bevölkerung.
    Flora sollte ihn von nun an – soweit es ihre Fähigkeiten zuließen – unterstützen.
    Zu Beginn hatte sie kleinlaut behauptet, etwas überfordert zu sein, das Lesen sei nicht das Problem, aber das ewige Schreiben strenge sie furchtbar an – bald wuchs die Enkelin der Magd jedoch über sich selbst hinaus.
    So wie Ferdinand – gleich einem Phantom – den richterlichen Haushalt und seine neuen Bewohner versorgte, so stellte Flora in der juristischen Arbeit jene Ordnung wieder her, die Jansen aus früheren Tagen

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