Der Widerschein
schlafenden Kindes, eingesunken hinter einer verfallenen Mauer, umrankt von Efeu und Sträuchern, das Gesicht lächelnd dem Erdboden zugewandt.
Jenes unscheinbare Bildnis, diese geradezu lächerliche Szenerie, sie ließ Männer – die sich ihr Geld vor allem durch Raub, Betrug und Totschlag verdienten – in haltlose Weinkrämpfe ausbrechen: Verzweifelt fielen sie auf die Knie, schluchzten und heulten hemmungslos in Gerlachs Armen, bis sie Stunden später schließlich abstritten, auch nur eine einzige Träne vergossen zu haben.
Dies sollte ihnen verdeutlichen, welche Gefahren von jenen angeblich unscheinbaren Bildern ausgehen könnten. Vorsicht sei sehr ratsam.
Gerlach betrachtete das Bild nur, wenn er wusste, dass seine Magd ihn in absehbarer Zeit aus diesem erbärmlichen Zustand befreien würde. Nun ging eben diese Magd durch den Raum, wischte gedankenverloren den Rahmen des Bildes ab und murmelte, sie begreife nicht, was an diesem Werk so besonders sein solle. Ein einziges Bild in einem gesamten Raum, da müsse man das Porträt eines Fürsten oder Königs aufstellen, aber doch nicht einen Faulpelz, der sich ganz offensichtlich vor der Arbeit drücken würde.
Verblüfft starrte Gerlach ihr hinterher.
Schon rückte das Bild in sein Sichtfeld; allein der Umstand, dass er mit voranschreitendem Alter nicht nur die meisten seiner Zähne, sondern auch einen Großteil seiner Sehkraft eingebüßt hatte, verhinderte Schlimmeres. Aber die Magd, keinen Schritt weit davon entfernt, sie huschte mit einem Staubwedel darüber, beschwerte sich über diese maßlose Platzverschwendung: Der Raum sei früher so wohnlich gewesen, und jetzt nur ein einziges Bild an der Wand, also so was!
Langsam erhob sich Gerlach, bewegte sich zitternd in den Nebenraum, peinlich bedacht, dem Bild keine Aufmerksamkeit zu schenken. Im Türrahmen blieb er stehen, zur Sicherheit. Er müsse sie um einen ungewöhnlichen Gefallen bitten – die Magd wandte sich ihm zu. Keine schwere Sache, sie solle lediglich jenes Bild einmal aus der Nähe betrachten und ihm anschließend sagen, was für sie dabei das Besondere sei.
Da brauche sie gar nicht nachsehen; das Besondere sei, dass es nichts Besonderes sei – sie möge bitte nachsehen, vielleicht entdecke sie ja doch etwas Interessantes. Achselzuckend legte die Magd Lappen und Federbusch beiseite, trat vor das Bild, grübelte. Vielleicht sei es die Farbe, der Himmel leuchte etwas zu hell, die Blätter rauschten so seltsam im Wind – endlich fiel die Magd um. Unter Tränen stammelte sie unverständliche Worte und Satzfetzen daher, die Gerlach schon vor mehreren Minuten erwartet hatte.
Einige Augenblicke später hing vor dem Gemälde ein schützender Vorhang, Gerlach schüttete seiner Magd einen Becher Wasser ins Gesicht, so dass sie zur Besinnung kam.
Während die Magd verwundert ihre nassen Wangen befühlte, zog Gerlach von einem anderen Bild das Laken herunter, bat seine Angestellte, einen prüfenden Blick zu riskieren.
* * *
Obwohl die berüchtigte dunkle Jahreszeit begann, in der sich noch mehr gesetzeswidrige Delikte ereigneten, ging Jansen in diesem Jahr die Arbeit viel leichter von der Hand.
Während er nun täglich versuchte, sich Flora gegenüber mehr zu öffnen, kam es dem Richter so vor, als ob seine neue Gehilfin ihn auf Abstand hielt. Sie suchte weder seine Nähe noch sprach sie mehr als nötig zu ihm. Die vielen kleinen Gründe, für die Jansen sie zu sich rief – mal sollte sie ihm etwas Wasser bringen, mal einen Brief versiegeln oder in seiner Anwesenheit die Ordnung der Bibliothek kontrollieren – selten wechselten sie mehr als drei Sätze miteinander.
Mittlerweile vermied Flora es sogar, ihm direkt in die Augen zu schauen.
Durch Zufall fand Jansen jedoch heraus, dass der Lagerraum unterhalb der Bibliothek jenes Zimmer war, in dem Flora nachts schlief und wohin sie sich tagsüber bisweilen zurückzog. Ein winziges Astloch unter dem Lesepult gewährte dem Richter außergewöhnliche Einblicke: etwa, wenn Flora unerlaubte Ruhezeiten hielt, heimliche Mahlzeiten zu sich nahm oder sich – besonders vor dem Zubettgehen – von Kopf bis Fuß entkleidete und sorgsam reinigte.
Wenn Jansen still sitzen blieb, konnte er problemlos hören, wie sie kindliche Lieder sang.
Eine Tür knarrte, Jansen sah auf.
Unterhalb der Bibliothek öffnete sich die Tür ihres Zimmers.
Jansen blickte von der vor ihm geöffneten Akte auf, horchte in den unteren Raum hinein. Der Uhrzeit nach nahm Flora eine
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