Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
Vom Netzwerk:
gewohnt war. Mehr noch: Flora erstellte tadellose Abschriften sämtlicher Briefe, die sich ergeben in ein perfektes Ablagesystem einfügten; Notizen – sortiert nach Eile, Anliegen und Name – stellten thematische Bezüge her und verwiesen präzise auf sämtliche Akten, Bücher und sonstige Dokumente, die im Haus zu finden waren.
    Selbst die von Jansen hochgelobte Ordnung der Bibliothek verbesserte sich – die schmalen Wände schienen sich endlos auszudehnen, die Anzahl der Bücher potenzierte sich scheinbar um ein Vielfaches. Der sonst so eng wirkende Raum vermittelte plötzlich die Aura und Ausmaße eines gewaltigen Tempels – und dennoch fiel Jansen auf, dass er trotz dieser Verwandlung kaum noch Zeit damit verbrachte, ein bestimmtes Werk oder einen Beleg heraussuchen zu müssen, ja, dass er sich mittlerweile ungern zwischen all diesen staubigen Büchern, trockenen Texten und langweiligen Akten aufhielt.
    Stattdessen verbrachte Jansen einen Großteil seiner Zeit damit, Flora anzuschauen.
    Wenn er Anklageschriften verfasste oder Urteile sprach, wenn Zeugen zu befragen waren oder rechtliche Auskünfte erteilt werden mussten, selbst bei den lästigen Hinrichtungen – während all dieser Zeit dachte Jansen hauptsächlich an Flora.
    So oft wie möglich sah er ihr hinterher, vergaß, sich mit zum Tode Verurteilten zu treffen, und vernachlässigte den so wichtigen Kontakt zur Stadtverwaltung.
    Jansen selbst merkte kaum, was für eine unglaubliche Verwandlung er durchmachte.
    Hatte er sich in früheren Zeiten lediglich auf die Namen, Fakten und Zahlen eines Falles konzentriert – ohne auf Hintergründe und Umstände näher einzugehen –, sah Jansen in Floras Handschrift nunmehr herzergreifende Geschichten durchschimmern. Kriminelle, die nicht aus Bosheit oder Habgier das Gesetz verletzten, sondern aus der Not heraus. Das waren Menschen, die aus vielen kleinen Sorgen heraus dazu getrieben wurden, sich Schritt für Schritt aus der anständigen Welt zu entfernen: Hunger, Angst vor Schulden, die Fürsorge der eigenen Kinder, Pflege von Kranken – galt es doch, gemeinsam den Winter zu überstehen.
    Jansen erkannte in diesen Texten nicht nur ihre Probleme, er sah die Menschen wahrhaftig vor sich: ihre schmalen, ausgehungerten Gesichter, ihre traurigen Augen, ihre schäbigen Behausungen – all dies strahlte aus jedem einzelnen Satz, jedem Buchstaben heraus.
    Aber Jansen sah noch mehr – Dinge, die überhaupt nicht im Text vorkamen!
    Er sah, wie diese armen Menschen lachten, wenn sie Glück erlebten: die gefundene Münze, das geschenkte Brot, die bezahlte Miete, die erlegte Ratte, die Wärme der Mutter, die Zuneigung der Männer zu ihren Frauen, die Liebe der Kinder zu ihren Eltern. Und hinter all diesen rührseligen Episoden und Szenen erkannte Jansen zuletzt ein Gesicht, welches ihn freundlich anlächelte: Es war natürlich das Gesicht seiner neuen Hilfe Flora.
    Bald sah Jansen in jedem Menschen, in jedem Brief und in jedem Buchstaben Floras Gesicht aufleuchten – Jansen liebte es, sie zu beobachten.
    Nur ein einziges Mal konnte er sie berühren – flüchtig, am rechten Arm, als Jansen ihr persönlich den Wochenlohn aushändigte und sie übertrieben auffällig die erhaltenen Münzen nachzählte. In jenem Moment streifte Flora mit ihrem entblößten Unterarm für einen winzigen Augenblick den Handrücken seiner linken Hand.
    Jansen liebte diese Erinnerung!
    Für die Zeit nach Neujahr nahm er sich fest vor, einige gemeinsame Stunden mit ihr zu verbringen – wie Mann und Frau, ging es ihm durch den Kopf.
    Er musste sich mehr öffnen!
    Frauen, so hieß es doch, musste man viel Zeit opfern und ihnen ab und zu sogar Vertrauen schenken. Sobald dies geschehen sei, konnte man getrost heiraten.
    * * *
    Mit dem ersten Schnee erhielt Gerlach eine überraschende Nachricht von seinen Kundschaftern. Man war dem gesuchten Jungen mit etwas Glück dicht auf den Fersen; man hatte nämlich in Erfahrung gebracht, dass mindestens eines der Kinder die Hinrichtung überlebt habe – dies könne bedeuten, dass jener gesuchte Junge womöglich noch aufzutreiben sei!
    Während Gerlach Zeile für Zeile entzifferte, erschien seine Magd im Raum, stellte ihm eine Schale dampfender Suppe hin. Dann betrat sie wie selbstverständlich den frei geräumten Nebenraum, in dem Gerlach seinen Gehilfen die möglichen Auswirkungen von Ferdinands Werken demonstrierte – mithilfe eines seiner ersten Bilder, einer Zeichnung. Es zeigte die Gestalt eines

Weitere Kostenlose Bücher