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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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und erstarben, als die Kutsche des Geheimrats den Hof verließ. Aus dem Augenwinkel sah Jansen im Bibliotheksfenster den Kutschschatten kleiner werden und schließlich verschwinden.
    Erst jetzt bewegte er sich wieder. Er öffnete das angelehnte Fenster vollends – Luft, er erstickte noch im Dunstkreis dieses Menschen! Auf dem Tisch lagen Beutel und Umschlag, Jansen langte nach beidem. Zehn übelriechende Münzen waren im Beutel – damit kam man vielleicht nach Köln, aber eine Herberge musste auch noch bezahlt werden.
    Jansen seufzte, setzte den Beutel aufs Fensterbrett, öffnete den Umschlag.
    Dieser enthielt einen Brief, voll von ineinander verschlungenen Lettern, die kaum lesbar waren. Geheimrat Fischers galt als einer der klügsten Menschen dieser Gegend; seine Handschrift zeugte allerdings davon, wie schwer sich dieses erworbene Wissen bisweilen in Worte fassen ließ: Imposante Buchstaben und winzige Ikonen verschmolzen zu einem Gemisch aus Schrift und Bild, die Jansen schwindelig machten; er legte den Brief beiseite. Die wenigen Worte, die man entziffern konnte, sprachen eine deutliche Sprache – weshalb die Reise für Fischers so bedeutsam war.
    Seine beiden jungen Gehilfen wussten Bescheid; der Herr Richter solle sich keine Sorgen machen, bis zum Sonnabend sei alles bereit. Flora lächelte ihm aufmunternd zu.
    Die Nachricht der Reise verbreitete sich auch ohne sein Zutun schneller, als Jansen lieb war. Bereits am nächsten Abend hatten sich mehr als zwanzig Reisewillige gemeldet; beim Großteil war zu befürchten, dass dies ihre erste und zugleich letzte Wallfahrt sein würde – so Gott wollte, dass sie dieses Wagnis überlebten.
    Jansen war nicht wohl.
    * * *
    Erst am Samstagabend, kurz vor dem Schlafengehen, erinnerte sich Jansen an Fischers’ Brief; Flora hatte ihn vorsorglich auf sein Kopfkissen gelegt. Viele Dinge waren geschehen, Jansen brauste der Kopf.
    Unzählige Versuche, die Reise abzusagen, flehende Gespräche mit sämtlichen Stadträten – vergebens. Alles, was er sich mühevoll erarbeitet hatte – sein Amt, seine Ordnung, Flora – alles würde er verlieren, morgen, nach dieser einen Nacht, auf unbestimmte Zeit.
    Im flackernden Schein der Kerze langte Jansen dennoch nach dem Brief. Zu seiner größten Überraschung lag darunter ein zweites Kuvert, deutlich dicker, unversiegelt.
    Zunächst jedoch der Brief des Geheimrats: Auch beim erneuten Betrachten dieses Durcheinanders konnte Jansen daraus kaum etwas entnehmen. Sämtliche Zeichen und Buchstaben zerfielen in bloße Anhäufungen aus Punkten und Linien, die wie vertrocknete Rinnsale aussahen; Jansen erahnte nur wenige Worte und Wendungen, die unregelmäßig im Text auf- und abtauchten; durchgestrichene Wörter und ungeschickte Farbkleckse bildeten bizarre Fabelwesen mit Engelsköpfen und Reißzähnen; manche Sätze und Wortgebilde stachen dafür gleich rauen Felsen schroff aus dem Textfluss heraus; zahllose Einschübe und Ergänzungen ragten in spitzen Zacken und Ecken über den eigentlichen Textkorpus hinaus, um erst kurz vor den Rändern im Weiß der Blätter zu versiegen.
    Der ursprüngliche Sinn – die Übermittlung einer Botschaft – ging in diesem Meer aus Tinte vollständig verloren. Jansen seufzte, legte den Brief beiseite.
    Mit klopfendem Herzen griff er den zweiten Umschlag, schloss – während er den Inhalt hervorholte – seine Augen, meinte, bereits Floras zarte Handschrift zu erkennen.
    Als Jansen sie jedoch wieder öffnete, waren Brief, Bett und Zimmer verschwunden.
    * * *
    Zerklüftete Felsen säumten den Horizont, unförmige Wolkengebilde zogen über Jansen hinweg, um erst weit hinter ihm im Blau des Meeres zu versinken.
    Träge schaukelte das Boot auf der Stelle. Seichte Luftströme rochen nach Tang und Salz, umspielten das leise Rauschen der Wellen. Eine Zeitlang sah Jansen umher: das Boot, die Ruder, die Netzleine, die Wasseroberfläche, der Horizont, die Stille.
    Hoch über ihm nahm der Wind zu: Wolken hetzten, drängten, sanken, verdunkelten das Meer, sogen die Farbe von Himmel und Wasser auf, bis alles in Dunkelheit ertrank. Böen griffen in die Wellen, schüttelten das Boot, bis es mit einem Ruck nachgab – schlaff hing das Netzseil im Wasser. Langsamer als die Wolken über ihm trieb Jansen dahin. Dicke Tropfen fielen gemächlich herab, klatschten in die Stille. Der Wind blähte sich ein letztes Mal auf – und verschwand.
    Der Regen gab zusehends auf, die Dunkelheit blieb.
    Ein tiefes Grollen rollte übers

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