Der Widerschein
Aufgabenbereich ruhen lassen zu müssen. Fischer betonte, er wisse Jansens Verantwortungsbewusstsein für sein Amt sehr zu schätzen.
Aber wie er sich das denn vorstelle?
Die Leute stünden ja schon im Hof, bereit abzureisen!
Er könne jetzt nicht mehr absagen!
Jansen bat Fischers, Platz zu nehmen. Schweigend blieb der Richter einen Moment vor dem Geheimrat stehen. Dann gab er diesem das Bild des Briefes in die Hände.
Das habe allem Anschein nach der Junge gezeichnet, Ferdinand. Er wisse es nicht genau – aber er habe den Jungen beim Zeichnen beobachtet; und dies und weitere Indizien würden plötzlich eine seltsame Situation ergeben.
Beeindruckend sei dies in der Tat, murmelte Fischers nach einigem Zögern, ohne dabei seine Augen vom Bild abwenden zu können, überaus beeindruckend.
Jansen nickte.
Dies sei nicht nur ein gewöhnliches Zeichentalent, so etwas grenze an eine göttliche Gabe.
Der Geheimrat nickte kaum merklich.
Und dieses Talent zusammen mit einem geschickten Schmied und einer Bande von Falschmünzern, dies sei doch merkwürdig. Wenn nicht sogar suspekt. Als Assistent des alten Richters habe er zwar von dem damaligen Prozess nicht allzu viel mitbekommen; aber wenn Beuningen geahnt hätte, was in diesen Burschen für Fähigkeiten ruhten – wer weiß, ob er sie nicht pro forma mitverurteilt hätte.
Der Geheimrat bewegte sich nicht mehr.
Ja, wenn er es bedenke, seien diese Burschen vermutlich die wahren Schuldigen – und wenn er sich Piet und Ferdinand noch genauer betrachte, dann sei es mehr als eindeutig, wer von den beiden die treibende Kraft gewesen sei. Piet sei viel zu vorlaut und dreist: als ob der sich bei solch einer Gruppe habe durchsetzen können!
Aber Ferdinand, mit seiner ernsthaften und subtilen Art, der könne so etwas.
Es bliebe ihm als Richter nichts anderes übrig, als den Fall erneut zu untersuchen und vorsorglich die gesamte Stadtverwaltung zu verständigen.
Mit einem Ruck schreckte der Geheimrat auf, wobei er das Bild, das mittlerweile den Schweiß seiner Hände aufgesogen hatte, zerriss.
Unter keinen Umständen!
Wie er solche Vermutungen aufstellen könne!
Ferdinand sei ein Künstler, doch kein Betrüger!
Im Kerker würde er eingehen – und mit ihm sicherlich auch seine Genialität.
Das könne er nicht zulassen!
Jansen betrachtete Fischers. Das Gesicht des Geheimrats war bleich geworden, die Augen zuckten hektisch hin und her, seine Hände zitterten. Einen Augenblick lang musste Jansen überlegen, woran ihn diese Merkmale erinnerten. Dann fiel es ihm plötzlich ein: Fischers sah so aus wie damals Beuningen, als dieser Jansen sein fatales Fehlurteil gebeichtet hatte.
Ein Lächeln huschte über Jansens Gesicht.
Vielleicht gebe es ja noch einen anderen Weg.
Sechstes Kapitel
D en einstigen Aufstieg der Niederlande verdankten seine Bewohner vor allem zwei natürlichen Gegebenheiten: dem Wind und dem Meer. Beide hatten die Menschen jenes Landes bis vor kurzem zu unermüdlichem Tatendrang verleitet.
Noch vor wenigen Jahrzehnten hatte man gewaltige Deiche und Schutzwälle errichtet; anno dazumal verstand man es, Flüsse durch Wasserräder und Schleusen in zahllose Kanäle umzuleiten; und die stürmische Seeluft nutzte man seinerzeit im gesamten Land mit raffinierten Windmühlen – natürlich für wirtschaftliche Zwecke und schon seit ewigen Zeiten. Boote, Flöße und Schiffe schipperten früher flussauf- und flussabwärts, durchkreuzten selbst die kleinsten Wasserwege und belieferten damals sämtliche Regionen mit fremden Waren und den neusten Nachrichten.
Der Fortschritt ging in jenen vergangenen Tagen sogar so weit, dass man der See bestimmte Stellen streitig machte, indem man das Wasser in Brachflächen auffing, die neuen Gebiete mit Steinen, Erde und Sand ebnete, um dadurch Häfen und Städte weit ins Meer hineinwachsen zu lassen.
Jenseits der Landesgrenzen hielt der Ruf der Niederlande lange an: Vom Schwabenland bis weit nach Ostindien galten die Niederländer als wohlhabend, ehrgeizig und einfallsreich. Sogar auf dem neuen Kontinent wurden die Einwohner jenes flachen Landes gerühmt für ihre frühere Fortschrittlichkeit – von der im achtzehnten Jahrhundert tatsächlich kaum noch etwas zu spüren war: Deiche brachen, Häfen versandeten, zahllose Ernten fielen aus.
Allein der legendäre Ruf des Goldenen Zeitalters der Niederlande sorgte dafür, dass jene unschönen Ereignisse in der Welt glücklicherweise nahezu unerwähnt blieben.
* * *
Unendlich
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