Der Widerschein
Meer. Wieder sah Jansen sich um: Die letzten Tropfen fielen nun senkrecht und so langsam, dass er sie mit der Hand auffangen konnte. Das Wasser war ein schwarzer Spiegel, eben, nur vom seltenen Aufschlagen des Regens zersplittert. Jansen betrachtete die sich ausbreitenden Sprünge. Er beugte sich vor, aber sein Blick prallte von der Oberfläche ab; schwach sah er im schwarzen Wasser die Umrisse seines Spiegelbilds.
Dann erkannte er: Im Wasser unter ihm leuchtete etwas. Etwas, das hin- und herhuschte, zuerst heller wurde, dann verschwand und mit einem Mal direkt vor ihm auftauchte.
Jansen stolperte zurück, schützte seine Augen gegen die plötzliche Helligkeit: Über seinem Kopf hing eine triefende, bläulich-schimmernde Laterne. Er sah ins Licht, dann den Stiel entlang, an welchem das Licht hing, und schließlich nach vorn: Gestank von totem Fisch breitete sich aus, Zähne blitzten und zwei riesige Augen beglupschten ihn; Laterne, Maul, Warzen und Flossen fügten sich zu einer abscheulichen Fratze.
Zwischen gewaltigen Kiefern verrotteten die Überreste eines zerrissenen Netzes; daneben unzählige Fischköpfe, Grätenreihen und die Überreste zerfetzter Kleidung; aus dem Schlund des Ungeheuers zischte und schäumte es. Das riesige Maul öffnete sich, legte weitere Zahnreihen frei und stieß ein gewaltiges Brüllen aus.
Das Boot schwankte, Wasser und Fischleichen schwappten herein.
Dann schnappte das Maul zu; Jansen zuckte zurück, schloss vor Schreck seine Augen.
Das Bersten brechender Planken blieb jedoch aus.
Als Jansen endlich aufsah, war das Meer bereits wieder still. Eine Brise schob das Boot vor sich her. Am Horizont blinkten verschwommen einige Lichter auf, die schnell heller wurden.
Jansen starrte zu den Lichtern, schöpfte Wasser und Unrat aus dem Boot. An einem der hereingeschwemmten Fische klebte ein durchweichter Fetzen: der Brief von Fischers, in klaren Buchstaben.
Die Wünsche des Geheimrats bestätigten Jansens Befürchtungen; es war zum Verzweifeln. Buch führen sollte der Richter – und das in vielfacher Hinsicht: Wer mitzog, wann sie wo ankämen, was sie bezahlten. Überhaupt Zahlen, darauf legte der Geheimrat Wert – so wie man es von Jansen gewohnt sei; exakt solle es sein: Wie lang der Weg, welches die besten Herbergen, was musste man meiden.
Als Nachweis für die Bevölkerung, dass sie die heiligen Stätten besucht hatten, sollte Jansen Marienbilder mitbringen.
Nicht zu kostspielig, aber auch keinen Trödel.
Die nötigen Segnungen nicht vergessen.
Wichtig sei es, die Grüße an die Ordensbrüder öffentlich zu bestellen.
Je länger Jansen las, desto mehr meinte er, unter dem lesbaren Text eine weitere Nachricht durchschimmern zu sehen; Worte und Sätze, die den wahren Anlass für diese Wallfahrt in ein deutliches Licht rückten.
Der ehrenwerte Geheimrat Fischers wolle sich nämlich während Jansens Abwesenheit gern um die juristischen Aufgaben der Stadt kümmern. Dies sei der alles entscheidende Grund, den jungen Richter auf eine solch umständliche Reise zu schicken: Ihm, Fischers, sei seine Beschäftigung als Geheimrat schon lange zu eintönig geworden, ja, geradezu langweilig. Man habe mittlerweile kaum noch mit Menschen zu tun, sondern bloß mit Zahlen, Begriffen und Paragraphen, es sei zum Gähnen.
Die richterliche Arbeit habe ihm dagegen bereits früher viel Vergnügen bereitet.
Die spannenden Verhöre, wo man die tollsten Lügen aufgetischt bekomme! Die endlosen Befragungen, bei denen jedes Mittel recht sei. Folter, großartig! Wie leicht man diese Verbrecher doch zum Reden bringen konnte. Und dann diese tumultartigen Verurteilungen! Entzückend. Gleich Volksfesten! Da sei man dem einfachen Manne um so vieles näher!
Es sei eine wahre Freude!
Beuningen, dessen Fehlurteil, dieser Ferdinand und jene teuflischen Anschuldigungen – dies alles komme ihm, Fischers, um es kurz zu fassen, gerade sehr gelegen.
Endlich mal eine willkommene Abwechslung!
Jansen ließ den Brief sinken.
Er hatte es geahnt: Der Geheimrat handelte schließlich nie uneigennützig.
Zudem: Kein Wort, wer für die übrigen Reisekosten aufkam.
Oder wer die verlangten Bilder bezahlen würde.
Was mit Ferdinand danach geschehen sollte.
Was währenddessen aus Flora wurde.
Verärgert starrte Jansen auf das Meer, auf die näher kommenden Lichter.
Endlich schlief er ein.
* * *
Der Geheimrat nickte. Er könne verstehen, dass Jansen als neuer Richter nicht wohl sei, seinen gerade übernommenen
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