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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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langsam drang der erste Schein der Dämmerung über den östlichen Horizont und eröffnete den Auftritt der kalten Frühjahrssonne. Bevor das Licht jedoch Landschaft, Dünen und Meer mit rötlichem Schimmer überziehen konnte, wurde die Helligkeit von Dunst und Nebel aufgesogen und die Küste und das Wasser in weiche, wellenartige Formen verwandelt. Allein die Mauern des ehemaligen Gefängnisses hielten den Nebel auf Abstand.
    In winzigen Schritten erklommen die Sonnenstrahlen Zinne für Zinne, fielen sanft in den weitläufigen Innenhof hinein und trafen im gegenüberliegenden Gebäude die Augen des Oberaufsehers Huygens, der – in abgetragener Uniform und aufpolierten Stiefeln, mit dazugehörigem Säbel – die fasrigen Vorhänge seiner Dienststube vollends aufzog.
    Nur selten verpasste Huygens sein allmorgendliches Ritual – etwa, wenn die Insassen in der Nacht mit Nachdruck zur Vernunft gebracht werden mussten, wider Erwarten ein Feuer ausbrach oder eine nächtliche Schiffsladung von Geisteskranken seine Anwesenheit notwendig machte. Huygens, als Leiter dieses Irrenhauses, nahm seine Pflicht ernst, auch wenn ihn seine Klienten regelmäßig an den Rand der Verzweiflung brachten.
    Auf seine Anweisung hin teilte man die Insassen der Anstalt in drei verschiedene Gruppen.
    Den größten Anteil verzeichneten die Greise und Invaliden, die in diese Institution augenscheinlich am wenigsten hineingehörten und dennoch in Scharen angeliefert wurden; sei es, weil sie nicht mehr gehen, stehen, sprechen konnten oder sonst wie unbrauchbar geworden waren. Für Huygens fielen gerade diese ausgesonderten alten Krüppel unfraglich in die Kategorie der Wahnsinnigen: Menschen, die weder für sich noch für andere zu sorgen imstande waren, konnte man kaum als normal bezeichnen.
    Man servierte ihnen täglich zwei bis drei Mahlzeiten, sorgte dafür, dass Ungeziefer und Krankheiten ein stabiles Niveau einhielten und ließ sie einmal pro Woche in den Hof hinaus, was zwar enorme Geduld erforderte, jedoch meist ohne größere Zwischenfälle verlief – lediglich die anhaltenden Annäherungsversuche der alternden Herren an die kaum noch als Frauen erkennbaren Gestalten mussten von Huygens und seinem Personal fortlaufend unterbunden werden; auch dies war letztlich ein eindeutiges Indiz dafür, dass jene unsittlichen Insassen aus gutem Grund in dieser Anstalt lebten.
    An manchen Tagen kam man mit einigen Veteranen ins Gespräch, erfuhr von diesen die ewig gleichen Geschichten über allgemein bekannte Kriegsschauplätze und veraltete Schlachtverläufe – allerdings erzählten sie ab und zu auch von sporadischen Plünderungen, unerlaubten Exekutionen und andere Anekdoten, mit denen man sich im Alter getrost brüsten konnte; ausgesuchte Zuhörer durften ihre Narben und Armstümpfe begutachten.
    Gelegentlich spendierte man ihnen dafür eine Runde Branntwein.
    Die zweite Gruppe bestand aus den Kranken und Infektiösen, die vom Kopf her oft gut begriffen, wo sie sich befanden, weshalb sie hier waren und was um sie herum geschah – glücklicherweise waren sie viel zu schwach und ungelenk, um sich gegen die Maßnahmen des Wachpersonals in irgendeiner Weise zu wehren. Man separierte sie gewissenhaft von allen übrigen Insassen im lichtlosen Keller der Institution, schob die täglichen Rationen durch einen schmalen Spalt in die jeweiligen Zellen hinein – ohne die Tür dafür öffnen zu müssen – und verbrannte die anfallenden Leichen jeweils in der Nacht zum Sonntag.
    Die einzige Anstrengung bestand in der Notwendigkeit, die toten Überreste zu bergen, ohne sich bei den übrigen Insassen anzustecken oder – noch schlimmer! – einen von ihnen entkommen zu lassen. Bewaffnet mit Knüppeln und Fackeln wagte sich einmal pro Woche ein Trupp von erfahrenen oder wagemutigen Aufsehern in die entsprechenden Abteilungen vor und kontrollierte dort peinlich genau die vorhandenen Zustände: jedes verräterische Bündel wurde mit Fußtritten oder Stockhieben auf Lebenszeichen überprüft.
    Waren die Reaktionen schwach oder blieben aus, stopfte man die Beute so schnell es ging in Säcke und beförderte diese zuletzt durch eine Luke heraus auf den Vorplatz, auf dem später ein beschauliches Feuer entfacht wurde, dem Huygens zu hohen Feiertagen gelegentlich beiwohnte.
    Den beschwerlichsten und lautesten Teil der Arbeit verursachte jedoch die letzte und bekannteste Gruppe der Insassen: all jene jämmerlichen Schafsköpfe, geistig Verwirrten und dummen Idioten

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