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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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Schlacht jedoch entschieden beeinflusst – ja, vielleicht sogar den Sieg herbeigeführt hatte.
    Bei der Gruppe der Alten und Schwachen befanden sich ausreichend Freiwillige, die als Mitglieder der aufeinandertreffenden Parteien fungieren konnten. Für die Rolle der eigenen Person verlangte Huygens allerdings einen Darsteller, der nicht durch einen hässlichen Armstumpf oder ähnliche Verstümmelungen vorbelastet war. Nur einmal gab es einen rüstigen Alten, der Huygens’ Erwartungen an diese besondere Rolle annähernd erfüllen konnte – und dieser Akteur starb, bevor eine Probe stattfinden konnte, an Nierenversagen.
    Aus diesem Grund inspizierte Huygens regelmäßig die Neuankömmlinge unter den Verrückten, lotete ihren Wahnsinn bis in die tiefsten Tiefen aus und erstellte mit der Zeit umfangreiche Tabellen und Listen, in denen die Absonderlichkeiten seiner Insassen bis ins Kleinste erfasst waren.
    Es gab Idioten, die – trotz großem Kopfumfang und schielenden Augen – beim Schachspiel die besten Wärter und selbst Brown besiegen konnten, sich jedoch bei einer der seltenen Niederlagen in eine derartige Wut hineinsteigerten, dass etliche Beruhigungsversuche mit dem plötzlichen Tod eines Spielers enden mussten. Im Gegenzug gab es Patienten, die keinerlei äußerliche Auffälligkeiten präsentierten, aber ohne intensive Behandlungen – allen voran Aderlässe, Branntweintherapie und Schlafentzug – pausenlos brüllten, um sich schlugen und den Verfall ihres körperlichen Zustands derart rasant vorantrieben, dass eine baldige Verlagerung in den Krankentrakt in den meisten Fällen unvermeidlich war.
    Um die möglichen Spieler über die stattgefundenen Ereignisse zu unterrichten, berichtete Huygens diese – Woche für Woche – einem auserwählten Kreis von Irren, Veteranen und Wärtern, von denen die Letzteren kaum Interesse für dieses Spektakel aufbringen wollten.
    Unterstützt von Brown – der Huygens Äußerungen durch unbedeutende Details noch abenteuerlicher erscheinen lassen konnte –, verlor sich der Oberaufseher in tollkühnen Beschreibungen: komplexe Gefechtsformationen, durchzogen von strategischen Vorstößen und rasselnden Säbeln; riskante Frontalangriffe, blitzartige Ausfälle, das Surren einschlagender Kanonenkugeln – alles vermengte sich zu einem heillosen Wirrwarr aus ausschweifenden Gesten, exzessivem Geschwätz und schlecht imitierten Kampfgeräuschen.
    Allein die Alten applaudierten, wenn sie nicht vor Abschluss seiner Rede schon eingeschlafen waren.
    * * *
    Wenige Wochen vor dem Jahrestag seiner Schlachtbeteiligung hatte Huygens noch immer keinen passenden Akteur ausfindig machen können. Er stand am Fenster, spähte an den zerschlissenen Vorhängen vorbei in den Innenhof, wo gerade die Alten und Krüppel bei dichtem Regen durch Pfützen und Schlamm humpelten.
    Es klopfte; Huygens drehte sich um, nahm an seinem Schreibtisch Platz, bat herein.
    Man habe in einer der Zellen eine Entdeckung gemacht, der Herr Oberaufseher müsse – unbedingt! – einen Blick darauf werfen.
    Aus den Beschreibungen der Wärter erfuhr Huygens, dass man die Zelle von Ferdinand Meerten untersucht hatte, dem stillen Begleiter von jenem Fischers, den man erst letztens zu den Verstümmelten verlagern musste.
    Wände und Decke, stammelten die Wärter durcheinander – ja, auch die Tür, der Fußboden und die Gitterstäbe – alles voll, unfassbar, übersät mit Zeichnungen und Bildern, man konnte sich das nicht vorstellen! Die Häftlinge kritzelten immer viel herum, man könne es ihnen kaum austreiben – aber jener Raum, das sei etwas ganz Besonderes!
    Der Herr Oberaufseher werde Augen machen!
    Aufgrund der Größe des Gebäudes nahm der Weg zu der besagten Zelle einige Zeit in Anspruch, so dass Huygens von den nicht enden wollenden aufgeregten Ausführungen und Schilderungen um ihn herum ganz schwindelig wurde.
    Diese unendlich vielen Bilder!
    Diese unvorstellbare Detailfülle!
    Dieser unglaubliche – Wahnsinn!
    Abrupt blieb Huygens stehen: Er habe verstanden, was man ihm sagen wolle. Von nun an herrsche Ruhe; sie würden noch eine ernsthafte Hysterie unter den Häftlingen auslösen.
    Stumm schritt man voran, verließ den Aufseherflügel, kam vorbei an der Altenstation, kreuzte einen Abzweig zum Küchentrakt und betrat schließlich den Bereich der Geistlosen.
    Eine seltsame Stille erfüllte die Räume, Huygens hallte das Schlüsselklirren im Kopf nach.
    In der Mitte des Flurs hockte jener Ferdinand, umgeben von

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