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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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Huygens seinen Blick über die auf dem Tisch befindlichen Gegenstände wandern.
    Alt sehe er nicht aus, bemerkte Brown. Graue Haare oder faltige Haut seien kein Indiz für wirkliches Alter. Innerhalb dieser Mauern zählten allein zahnlose Kiefer, Beinstümpfe oder verknöcherte Gelenke. Das werde man gleich haben.
    Auf ein winziges Zeichen von Brown stellte einer der Wärter Huygens erneut auf die Füße, während der andere nach Armen, Fingern und Beinen griff und diese grob vor und zurück bewegte; zuletzt packte man in seinen Mund und begutachtete seine Zähne.
    So schnell, wie die Untersuchung begonnen hatte, war sie vorüber. Huygens hatte kaum etwas von der Aktion mitbekommen. Seine Augen verfolgten gebannt, dass auf dem Tisch – wie von Zauberhand bewegt – die Schachfiguren, kaum, dass sie vom dickflüssigen Nebel berührt worden waren, hin- und herzurutschen begannen, ungeschickt und klappernd vom Brettrand sprangen und schließlich an der Tischkante in Stellung gingen.
    Brown und seine Wärter schienen von dem Schauspiel nichts mitzubekommen; der Oberaufseher fuhr in seiner Rede fort, man werde ihn jetzt auf mögliche Anzeichen von Krankheiten hin untersuchen. Während die Wärter Huygens die Kleider vom Leib zerrten, ihn drehten, wendeten und mit bizarren Instrumenten seinen Körper inspizierten, begannen die Figuren auf dem Tisch zu sprechen: Die piepsigen Stimmen der Bauern, die Türme brummten gleich einem Bass darunter, die Springer schnaubten, die Läufer näselten, die Damen flüsterten – allein die beiden Könige sprachen klar und deutlich, sahen Huygens direkt an, waren aber durch das Lärmen ihrer Untertanen kaum zu verstehen.
    Huygens schnappte vereinzelte Wörter und Sätze der Bauern auf, die sich über die Vielzahl der Schlupflöcher unterhielten, man sei quasi umstellt, von Entkommen könne überhaupt keine Rede sein. Die Springer stritten mit den Läufern, ob es besser sei, durch einen Schreck oder durch Fallen zu erwachen; allein die Türme verhinderten, dass beide Parteien aufeinander losgehen konnten.
    Die Prozedur sei gleich abgeschlossen, Brown räusperte sich, es bliebe eine Kleinigkeit noch zu erledigen.
    Mit einem Schlag verstummten die Gespräche auf dem Tisch; die Figuren wandten sich Huygens zu: Gott schütze den König, klang es einstimmig zu ihm herüber.
    Plötzlich fiel Huygens zu Boden.
    * * *
    Aufwachen! dröhnte eine Stimme neben seinem Kopf, schnell! Aufstehen! Huygens öffnete seine Augen, es änderte sich nichts: Die Dunkelheit blieb. Unerwartet riss ihn jemand in die Höhe, blindlings stolperte er ins Dunkel hinein.
    Man könne ihn nicht länger tragen, er möge – um Himmels willen! – endlich aufwachen.
    Weder Fackelschein noch verirrte Sonnenstrahlen kreuzten ihren Weg, man befand sich im Krankenkeller, dort, wo man die Infektiösen hinbrachte, wenn sie endlich sterben sollten. Ein Glück, dass der Herr Kommandant wieder erwacht sei, mit seiner Hilfe werde man Schlimmeres gewiss verhindern können.
    Um Huygens herum schienen vier bis fünf verschiedene Stimmen zu sein, dem Klang nach Wärter der dritten Abteilung, dem Irrenhaus – man kenne sich in diesen Bereichen des Gebäudes leider überhaupt nicht aus, hier würden nur die wirklich Mutigen hingehen – oder die Wahnsinnigen! – der Ort sei unheimlich, wieso denn immer noch kein Ausgang in Sicht komme? Leise müsse man sein, die Kranken könnten jeden Moment über sie herfallen.
    Schlimmeres? Huygens griff blind in die Richtung, wo die Stimme herzukommen schien, fand ein Stück Stoff, krallte sich fest, zog die Stimme an sich heran.
    Ruhe zu bewahren, das habe nun oberste Priorität.
    Was sei denn eigentlich geschehen?
    * * *
    Das ehemalige Gefängnis – das jetzige Irrenhaus – es brannte. Die Wachtürme loderten, die wenigen gläsernen Fenster zerplatzten durch die Hitze; man meinte sogar, einige der Gitterstäbe der Zellen rot glühen zu sehen. Der Innenhof, obwohl von außen nicht einsehbar und sicher kaum mit brennbaren Materialien ausgestattet, schien sich in ein Meer von Flammen verwandelt zu haben.
    Umringt von seinen beiden Begleitern und Hunderten von Schaulustigen, die aus den nächsten Dörfern und sogar von nahe gelegenen Inseln schnell herbeigeeilt waren, stand Gerlach vor den Mauern, starrte ins Feuer hinein.
    Gerüchte, im Gebäude befänden sich noch sämtliche Gefangene, die nun bei lebendigem Leibe verbrannten, sprangen von Mund zu Mund.
    Mehrere kräftige Männer brachen nach vielen

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