Der widerspenstige Planet
schwärmte.
Ich hätte darauf einfach nicht eingehen sollen. Der Mann hatte Talent als Zuhörer, aber er war musikalisch ungebildet. Wäre ich bereit gewesen, das Spiel zu wagen, ich hätte ihn etwas Wichtiges lehren und ihm vielleicht zeigen können, worum es bei der Musik überhaupt geht.
Aber das tat ich nicht. Stattdessen ging ich ohne jede Hemmung auf seine sentimentale Leidenschaft ein. Ich spielte Glenn Miller, Tommy Dorsey, Harry James. Ich suchte einen moralischen Ausgleich, indem ich Benny Goodman auswählte, aber dann sank ich so tief, Vaughan Monroe zu spielen.
Es ist etwas Schreckliches, eine solche Macht über einen anderen Menschen zu haben. Binnen Monaten konnte ich meinen Zuhörer ebenso manipulieren wie meine Schallplatten.
Wenn er hereinkam, spielte ich ein wenig mit ihm und brachte »Muskat Ramble«, eine Komposition, die über sein
Begriffsvermögen hinausging. Dann schwenkte ich abrupt zu Vaughan Monroes »Moon Over Miami«, und das Stirnrunzeln des Engländers verschwand, ein schwaches Lächeln umspielte seine dicken Lippen und er schaufelte wieder die ungenießbare Rijstaffel in sich hinein.
Der Küchenchef häufte in seiner Eitelkeit Unmengen auf seine Teller, aber ich war es, der ihn dazu brachte, das alles zu essen.
Manchmal, wenn ich »Take the A Train« spielte oder Armstrongs »Beale Street Blues«, seufzte der Engländer verdrossen, legte die Gabel weg und schien nichts mehr essen zu können. Ich legte dann schnell Glenn Millers »String of Pearls« oder »Blue Evening« oder »Pink Cocktail for a Blue Lady« auf. Oder ich haute ihm Harry James’ »When You’re a Long, Long Way from Home« oder Jimmy Dorseys »Amapola« um die Ohren.
Diese Frivolitäten wirkten auf ihn wie eine Droge. Sein runder Schädel nickte im Takt, in seinen Augen standen Tränen, er legte sich mit seinem Suppenlöffel ins Zeug.
Er entwickelte einen monströsen Leibesumfang und ich fuhr fort, ihn wie eine Versuchsratte zu manipulieren. Ich weiß selbst nicht, zu welchem Ende das alles hätte führen können.
Dann erschien er eines Abends nicht.
Er kam auch am nächsten und übernächsten Abend nicht.
Am vierten Abend betrat er das Lokal und der Chef, der sich begreiflicherweise Sorgen um seine Haupteinkommensquelle gemacht hatte, erkundigte sich nach der Gesundheit des Gastes.
Der Mann antwortete, sein Magengeschwür habe ihm heftig zu schaffen gemacht und er habe die Anweisung des Arztes befolgt, ein paar Tage wenig zu essen, aber jetzt fühle er sich wieder wohl.
Der Chef nickte und ging in die Küche, um seine scharfen Gerichte vorzubereiten.
Der Engländer sah mich an und sagte zum ersten Mal etwas zu mir. Ich erinnerte mich, dass ich Stan Kentons »Down in an Alley by the Alamo« laufen hatte. Der Engländer sagte: »Entschuldigen Sie, dass ich das frage, aber könnten Sie so gut sein und Vaughan Monroes ›Moon Over Miami‹ auflegen?«
»Natürlich, gern«, erwiderte ich und ging zum Plattenspieler. Ich nahm die Platte vom Teller und griff nach der von Monroe. Und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich den Mann tötete, buchstäblich tötete.
Er war süchtig nach meinen Schallplatten. Hören konnte er sie nur, wenn er Rijstaffel aß, die Löcher in seinen Magen brannte.
In diesem Augenblick wurde ich ein erwachsener Mensch.
»Keinen Vaughan Monroe mehr!«, schrie ich plötzlich.
Er sah mich verwirrt aus großen runden Augen an. Der Chef kam aus der Küche, verblüfft, weil ich so laut geworden war.
Der Engländer sagte flehend: »Vielleicht etwas Glenn Miller …«
»Nichts mehr«, erwiderte ich.
»Tommy Dorsey?«
»Ausgeschlossen.«
Der Unglückliche zitterte und seine dicken Hängebacken begannen zu beben. »Dann Duke Ellington.«
»Nein!«
»Aber Pablo, Sie mögen Duke Ellington doch!«, sagte der Chef.
»Oder spielen Sie Beiderbecke oder meinetwegen sogar das Modern Jazz Quartett!«, rief der Gast. »Spielen Sie, was Sie wollen, aber spielen Sie!«
»Sie haben schon zu viel gehabt«, erklärte ich. »Was mich angeht, ist mit der Musik Schluss.«
Ich hieb mit der Faust auf den Verstärker und zerschlug mehrere Röhren.
Der Chef und unser Gast waren sprachlos.
Ich verließ das Lokal, ohne meinen noch ausstehenden Lohn zu verlangen, ließ mich von einem Autofahrer nach Ibiza mitnehmen und fuhr als Zwischendeckpassagier auf einem Schiff nach Marseille.
Jetzt bin ich Saxofonist und nicht ganz unbekannt. Man hört mich jeden Abend außer Sonntag im Le Cat’s Pajamas
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