Der Widerstand: Demi-Monde: Welt außer Kontrolle 2 (German Edition)
wenn die Ragnarök – die ›Zeit des Geschreis‹ – näherrückt. Also stimmt auch die Chronologie.«
De Nostredame nickte ermutigend. »Vielleicht sollten wir uns nun der letzten und faszinierenden sechsten Seite zuwenden.«
Beim Anblick der letzten Seite der Säule schnappte die Menge nach Luft. Hier waren die poetischen Runen durch Piktogramme ersetzt worden. Das auffallendste war das Bild einer nackten Frau, die mit gespreizten Beinen auf zwei Löwen stand und in jeder ausgestreckten Hand eine Schlange hielt. Doch das war nicht alles. Das seltsame geometrische Muster auf dem unteren Teil der Säule war genauso faszinierend.
De Nostredame hob den Arm und zeigte auf die nackte Frau. »Hier sehen wir meiner Meinung nach eine Abbildung des Messias …«
»Der Messias ist also eine Frau?«
»Fürwahr.«
Die Dogaressa schwieg einen Augenblick, in Gedanken versunken. Schließlich nickte sie und erklärte: »Ja, Sie ’aben recht, de Nostredame. Es ist offensichtlich, auf dieser Säule wird die Zeit dargestellt, in der die Frau die Oberhand ’at. Und die Form der Säule, das V, hat die Form des weiblichen Geschlechts. Ja, die Säule zeigt eindeutig, dass der Messias eine Frau ist.«
Großartig.
»Aber was ist mit den Schlangen, die sie in den ’änden ’ält, Professor? Was bedeuten sie?«
»Meiner Ansicht nach«, erklärte de Nostredame und klang viel selbstbewusster, als er Kondratjews Meinung nach tatsächlich sein konnte, »zeigt das Bild auf der sechsten Seite der Säule, wie der Messias die beiden helixartigen Stränge des Lebendigen, das durch die Schlangen dargestellt wird, voneinander trennt. Es stellt die Fähigkeit des Messias dar, die grundlegenden Bausteine des Lebens zu entflechten und neu zusammenzusetzen, Exzellenz.«
»Interessant. Und was ist mit der geheimnisvollen algorythmischen Inschrift unter dem Bild des Messias?«
»Das ist ein vorläufig nicht entziffertes Stammbaum-Konzept. Eine mögliche Interpretation wäre, dass sie das Werk eines modernen Wissenschaftlers namens Gregor Mendel darstellt, der heute im Dienst der Kaiserin Wu steht. Er hat eine Studie über die Hybridisierung der Erbse erstellt, Pisum sativum . Darin zeigt er, dass bestimmte Merkmale der Stammpflanze unverändert in den Sprösslingen auftreten. Diese Merkmale der Vererbung können zufriedenstellend in einem Algorythmus dargestellt werden, der erstaunlich große Ähnlichkeit mit dem auf der Säule aufweist.«
Die Dogaressa kicherte. »Wollen Sie behaupten, dass dieses wunderschöne alte Erbstück vom UrVolk ersonnen wurde, um zu zeigen, wie man am besten Erbsen züchtet?«
De Nostredame achtete nicht auf das Gelächter im Publikum. »Keineswegs«, wandte er ein. »Mendels Ergebnisse lassen sich auf alle Vererbungsvorgänge in der Flora und Fauna anwenden.«
»Aber was ’aben diese Informationen auf der Säule verloren, auf der die Ankunft des Messias verkündet wird? Nein, ’ier irren Sie, de Nostredame. Diese Zeichnung ’at eher astrologische Bedeutung, als dass man sie mit Fortpflanzung und Fruchtbarkeit in Verbindung bringen sollte.« Die Dogaressa gähnte. »Isch glaube, isch habe genug gehört und gesehen.«
»Ich hätte da eine Frage«, sagte der Marquis de Sade leise.
Die Dogaressa erteilte ihm mit einer Handbewegung das Wort.
»Im dritten Gesang wird Lilith als ›Dunkle Herrin der Lebenden‹ beschrieben. Dürfte ich Professor de Nostredame fragen, ob das heißt, dass Lilith eine Shade war?«
Dreckskerl.
Das Beunruhigende daran war, dass de Sade die Frage keineswegs flapsig gestellt hatte. Kondratjew hatte das mulmige Gefühl, dass er die Wahrheit ahnte.
Zum Glück war de Nostredame schlau genug, von der peinlichen Frage abzulenken. »Keinesfalls. Wie gesagt, die Ausdrucksweise des Altfranzösischen ist zweideutig. Das Wort dunkel kann auch böse bedeuten. Nach gründlicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gelangt, dass hier eher Liliths grausames Wesen gemeint ist als ihre Hautfarbe. Für die Annahme, dass Lilith eine Shade gewesen wäre, gibt es keine Beweise, abgesehen von jenen, die auf rassistischen Vorurteilen basieren. Wenn sie mit irgendeiner Farbe in Zusammenhang gebracht werden kann, dann mit Rot, schließlich war sie die echte ›scharlachrote Frau‹.« De Nostredame sah sich im Saal um. »Gibt es noch weitere Fragen?«
Plötzlich stand die Dogaressa auf. »Keine weitere Fragen. Isch habe genug gesehen und gehört.« Sie wandte sich an die Lady. »Nicht nur ’at Schwester
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