Der Willy ist weg
fiepend zu Wort zu melden.
Spätestens mit dem machtvollen Erklingen von Richard Strauss' >Also sprach Zarathustra< über die bis hintenhin aufgedrehte hauseigene Beschallungsanlage, auf meinem Weg nach draußen, vorbei an dem leichenblassen Geschäftsführer und dem totenbleichen Projektleiter, spätestens da hatte sich meine Vision der Zukunft endgültig selbst vom letzten, vom allerletzten Hauch einstiger Rosigkeit verabschiedet.
Ich hatte exakt dreißig Minuten Zeit, mich am von den Entführern bestimmten Übergabeort einzufinden.
Mit fliegenden Fingern ließ ich den Motor des Toyota an und bekam gerade noch mit, wie eine der großen Panorama-Scheiben der McDagobert's-Filiale zu einem Blizzard fliegenden Glases explodierte, weil ein komplett in Rotterdam-Farben gewandeter Männerkörper rücklings hindurchgewuchtet wurde. Dann war ich unterwegs.
Dreißig Minuten, um mich am Übergabeort einzufinden, und die gleichen, die selben dreißig Minuten, um den Austausch vorzubereiten, inklusive Inspektion der Örtlichkeit - das KAUFHOF-Parkhaus in der Mülheimer Innenstadt - und dem Aushecken eines möglichst raffinierten Plans zur Ergreifung der Schweine, die unseren Willy entführt und verstümmelt hatten.
Dreißig Minuten, und wen hatte ich zu meiner Unterstützung?
Wen könnte ich wo postieren, um das Gebäude von allen Seiten einzukreisen?
Wen sollte ich mit einem Kopfnicken, keine Zehntelsekunde, nachdem ich Willy in Empfang genommen hatte, auf die Entführer hetzen, um sie in einen blutigen Klump zu hacken?
Wen hatte ich zur Verfügung, um mit Autos und Motorrädern die Verfolgung dieser verdammten Arschlöcher aufzunehmen, falls das Draufhetzen-und-zu-Klump-Hacken aus irgendeinem Grunde danebengehen sollte? Wen?
Scuzzi.
Pierfrancesco Scuzzi, dessen Gedanken die meiste Zeit des Tages unterwegs waren, ungebunden umhertänzelten wie eine Flaschenpost auf den Wogen der Meere.
Scuzzi, dessen Reaktionszeit man mit einer Sanduhr messen konnte.
Scuzzi, der in einer Klopperei Schwierigkeiten hätte, sich gegen eine Bauchrednerpuppe durchzusetzen.
Hoffentlich ist er wenigstens halbwegs frisch, dachte ich, als ich mit kreischend protestierenden Reifen in die Johann-Wolfgang-von-Goethe-Allee einbog. Ein zugedröhnter Scuzzi hieße noch ein halber Scuzzi weniger, um gleich die Vielzahl der oben aufgelisteten Aufgaben zu übernehmen.
Ich fand ihn auf dem Pott.
»Die Aufregung«, erklärte er, an Gürtel und Reißverschluss nestelnd, während ich ihn hinter mir herschleifte, die Treppe hinunter. »Wo sind die anderen?«, wollte er wissen.
»Beschäftigt«, erklärte ich ihm, mit langen Schritten durch die Halle stürmend. »Es bleiben nur noch du und ich.«
Da flog die Haustüre auf und schwang mit einem Krachen bis gegen die Wand. Und in der Öffnung stand Heiko.
Heiko Zimmermann. Charlys älterer Bruder. Der, über den keiner seiner Freunde und Bekannten jemals etwas Schlechtes sagen würde. Nicht vor Zeugen, zumindest.
Mann, blass war er. Aber das ist normal. Und ein wenig aus dem Leim gegangen war er auch. Ebenfalls normal. >Dampfkost< haben wir die Häftlingsverpflegung immer genannt. >Die treibt auf<, hieß es immer.
Doch ansonsten schien er unverändert. Immer noch die peinliche dauergewellte, nackenlange DorfdiscokönigMatte, immer noch das gleiche, unangenehme Dschingis-Khan-Bärtchen, immer noch diese beunruhigende Aura kurzluntiger, explosiver Aggressivität. Er trug sogar exakt dieselben Sachen am Leib, in denen sie ihn fünf Jahre zuvor eingebuchtet hatten. Doch das fiel nicht weiter auf. Denn, mal ganz im Ernst: Neonfarbene Ballonseide-Jogginganzüge kommen ja wohl nie aus der Mode.
»Du weißt, wo ich Wolf finde?«, fragte er mich. Nein -grollte er mich an.
Ich nickte.
»Dann fahren wir jetzt da hin. Wo ist der Rest des Haufens?«
Die angehängte Frage ersparte mir die Verlegenheit, der vorangestellten Anordnung zu widersprechen. Immer heikel, so was, mit Heiko.
So erklärte ich ihm rasch in zwei Sätzen, was anlag. Und selbst er erkannte die Prioritäten.
»Okay«, entschied er. »Dann hauen wir jetzt eben euern Willy raus, und anschließend begleitet ihr mich zu einem kleinen Plausch mit Wolf.«
Gut, dachte ich. Beim ersten Teil bin ich dabei, und für den zweiten Teil lasse ich mir dann was einfallen. Selbstmord, habe ich schon lange entschieden, macht erst dann einen Sinn, wenn er einem am nächsten Morgen die Hauptschlagzeile in BILD einbringt. Direkt über dem Foto des
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