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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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alten Stadtvillen in einer völlig anderen Welt.
    Am Jungfernstieg herrschte der zu erwartende Trubel: Scharen von Touristen waren an die Alster geströmt, um eine Bootsfahrt auf dem aufgestauten Fluss zu unternehmen oder wie die Einheimischen an den Schaufenstern der feinen Boutiquen vorbeizuflanieren.
    Jule begann ihre Tour an ihrem üblichen Ausgangspunkt: dem erst unlängst von Grund auf renovierten Alsterhaus. Jule mochte das Alsterhaus, weil es genau der Vorstellung entsprach, die sie sich als Teenagerin in Pinneberg von einem richtigen Konsumtempel gemacht hatte, wenn sie auf dem Bett gelegen und von ausgedehnten Shoppingexzessen in aller Welt geträumt hatte.
    Zwei lächelnde junge Frauen begrüßten Jule, als sie eintrat. Ein großzügiges, in Weiß gehaltenes Foyer, umsäumt von einer Galerie, auf der goldene Schilder mit Markennamen aus aller Welt die Kunden lockten, empfing sie. Sie schritt über ein in die Marmorfliesen eingelassenes Mosaik einer Windrose, in deren Mitte stolz das Schiffswappen des Alsterhauses prangte, und steuerte direkt auf die Parfümerie zu.
    So, wie das Alsterhaus den Startpunkt eines jeden Schaufensterbummels markierte, folgte Jule auch innerhalb des Gebäudes einer festgelegten Route: Sie begann im Erdgeschoss bei den Parfüms und der Kosmetik, ging danach ins zweite Obergeschoss zur Damenmode und endete anschließend zwei Stockwerke höher auf dem sogenannten Feinschmecker-Boulevard, wo sich allerhand Leckereien erstehen ließen.
    Jule verbrachte eine Stunde zwischen Flakons und servilen Verkäuferinnen. Sie war noch nicht zu einer Entscheidung gelangt, ob nun die raffiniert-pfeffrige Note von Jean Paul Gaultiers Ma Dame oder eher doch der blumig-orientalische Duft von Paco Rabannes Lady Million besser zu ihrem Typ passte, als der Tag eine überraschende Wende nahm.

92
     
    »Jule?«
    Sie drehte sich um. Als sie sah, wer da von hinten an sie herangeschlichen war, ließ sie sofort die beiden Pappstreifen sinken, auf die sie die zur Wahl stehenden Parfüms gesprüht hatte.
    Rolf Behr hatte eine erstaunliche Verwandlung durchlaufen: Statt seines unförmigen Blaumanns trug er eine geschmackvolle Kombination aus braunen Cargohosen, einem altrosa Ralph-Lauren-Polohemd und weißen Sneakers von Puma. Sie hätte nie gedacht, dass ein Mann mit seinem Beruf sich so ansprechend zu kleiden verstand.
    »Oh. Hallo, Rolf.«
    »Gab es noch Probleme mit dem Wagen?«, wollte er wissen.
    »Ach, eigentlich nicht. Nichts Ernstes jedenfalls.« Sie vertagte die Wahl zwischen den beiden Parfüms bis auf Weiteres und steckte die Probestreifen in ihre Handtasche. Beim Blick nach unten bemerkte sie die blaue Einkaufstüte, die an seinem Arm baumelte. Es war die stabile Variante aus festem glänzendem Papier mit Kordelgriffen, die man im Alsterhaus erhielt, wenn man etwas entsprechend Teures kaufte. Sie musste unwillkürlich grinsen, weil der Artikel, den er erworben hatte und den sie durch den Spalt oben in der Tüte erspähen konnte, ohne jeden Zweifel aus der Dessous-Abteilung stammte: ein schwarzes Seidenkorsett mit roten Applikationen entlang der Stangen, wenn sie richtig gesehen hatte. »Na, schon fündig geworden?«, fragte sie.
    Das Blut schoss ihm in seine rundlichen Wangen. Er drehte die Tüte so, dass sie nicht länger hineinschauen konnte. »Das ist nicht meins«, beteuerte er. »Ich soll es nur für eine Freundin zurückgeben. Sie wohnt bei mir um die Ecke, und als sie gehört hat, dass ich heute in die Stadt fahre, da …« Er verstummte. »Das hört sich nach einer billigen Ausrede an, oder?«
    Sie lachte. »Ein bisschen.« Sie stellte fest, dass sie sich ehrlich darüber freute, ihn so unverhofft wiederzusehen. Noch dazu war sie ein wenig erleichtert darüber, dass er »eine Freundin« und nicht »meine Freundin« gesagt hatte. »Aber es geht mich ja auch nichts an, was du privat so trägst. Wir kennen uns doch kaum.«
    »Stimmt.« Er schaute erst sie an, dann zu Boden, biss sich eine Sekunde auf die Unterlippe und begegnete schließlich wieder ihrem Blick. »Hättest du Lust, das mit dem Kennenlernen nachzuholen? Bei einem Eis oder so?«

93
     
    Jule hatte Lust. Zehn Minuten später saß sie mit Rolf an einem der Außentische einer gediegenen Eisdiele in den Alsterarkaden mit Aussicht auf das Rathaus und die Schwäne, die sich im angrenzenden Fleet von den Touristen füttern ließen.
    Er aß einen Walnussbecher, sie trank einen Eiskaffee. Je länger sie mit ihm plauderte, desto mehr

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