Der Wind bringt den Tod
»Ich habe es aber nicht sehr weit.«
»Umso besser.« Er lächelte schelmisch, die Augen ein wenig glasig vom Wein. »Dann ist es ja kein großer Umweg für mich.«
Sie spazierten los. Er trug wie selbstverständlich ihre Einkaufstüten.
In der U-Bahn setzte er sich ihr gegenüber und fragte sie, wo sie genau wohne und wo sie aussteigen müssten. Während sie es ihm erklärte, betrachtete er sie beinahe verträumt. Jule störte sich nicht daran. Es war kein unangenehmes, starres Taxieren. Er ließ seinen Blick vielmehr behutsam über sie wandern wie jemand, der etwas Kostbares gefunden hatte und sich dessen ganz klar bewusst war.
Ungefähr auf halbem Weg zwischen der U-Bahn-Station Hallerstraße und ihrer Wohnung wurden sie von einem Platzregen überrascht. Das Wasser prasselte wie aus Kübeln vom Himmel, und in der Ferne grollte Donner. Sie rannten das letzte Stück. Zu Beginn lachte, quietschte und fluchte Jule abwechselnd. Rolf schrie immer nur »Ist es noch weit? Ist es noch weit?« Als sie unter dem schmalen Vordach vor ihrer Haustür ankamen, kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel und sog nach dem Sprint gierig die klare Luft ein, die der Regen von Staub und Abgasen reingewaschen hatte. Sie hatte die Tür schon halb aufgestoßen, als ein Höllenlärm plötzlich das Prasseln des Regens und das Donnergrollen übertönte. Rolf trat zurück in den Regen, um die Straße hinunterzuschauen.
»Was machst du da?«, rief sie ihm zu. »Komm rein.«
Sein nasses Gesicht verzog sich zu einer besorgten Miene. »Ich glaube, das ist dein Wagen. Schalt die Alarmanlage aus.«
Sie hatte Mühe, ihn zu verstehen, weil in diesem Augenblick der erste Blitz zuckend und krachend zur Erde niederfuhr. »Was?«
»Das ist dein Wagen. Schalt die Alarmanlage aus«, wiederholte er ungeduldig.
Sie beugte sich ein Stück aus der Tür. Er hatte recht. Die Warnblinker des BMW pulsierten hinter verwehten Regenschleiern. »Wie mach ich das Ding aus?«, fragte sie.
»Mit dem Schlüssel. Zweimal auf Schließen drücken.« Er eilte zurück an ihre Seite und brachte die Einkaufstüten ins Trockene. »Das muss das Gewitter sein. Scheißelektronik!«
Der Schlüssel war in ihrer Tasche vollkommen untergewühlt. Sie tastete endlos lange darin herum. Sie erfühlte eine uralte Packung Smints. Kein Schlüssel. Ein benutztes Tempo. Kein Schlüssel. Ihr Portemonnaie. Kein Schlüssel. Wo war das blöde Teil nur? Da! Endlich! Der Schlüssel! Sie riss ihn aus der Tasche. Was hatte Rolf gesagt? Zweimal schließen. Ja, genau! Sie drückte zweimal den Knopf. Die Alarmanlage plärrte weiter. »Es geht nicht!«
Vielleicht war die Entfernung zum Wagen zu groß? Sie rannte durch den Regen und drückte weiter hektisch auf dem Schlüsselanhänger herum, der unter ihren Fingern immer glitschiger wurde. »Du Drecksding!«, keifte sie. Sie stand nun direkt neben ihrem Wagen, und das Piepen und Pfeifen wollten immer noch nicht aufhören. »Mach doch!«
Vor Zorn und Panik trat sie gegen einen der Vorderreifen. Ein brennender Schmerz schoss ihr von den Zehen bis ins Knie. Dann war Rolf bei ihr.
»Gib her!« Er entwand ihr den Schlüssel, um ihn auf das Auto zu richten wie eine futuristische Strahlenwaffe. Der nächste Donnerschlag hallte. Als er verklungen war, hörte Jule nichts außer ihrem eigenen keuchenden Atem und dem Regen.
Rolf hastete einmal um den Wagen herum. Dann blieb er stehen und schaute zu Jule. War das Enttäuschung, was sie da in seinem Blick sah? Sie bemerkte ihr Spiegelbild in einer der Seitenscheiben des BMW, von der das Wasser in kleinen Sturzbächen perlte. Deshalb musterte er sie wohl so merkwürdig: Ihr Haar klebte ihr nass am Schädel. Verlaufene Wimperntusche rann ihr die Wangen hinunter wie schwarze Tränen. Sie sah unmöglich aus. Unmöglich und hässlich.
Sie begriff, dass man aus jedem Traum einmal erwachen musste, und humpelte wortlos in Richtung Haustür.
»Jule!«, rief ihr Rolf hinterher.
»Danke fürs Heimbringen!« Sie winkte ihm über die Schulter zu, huschte durch die Tür, schlug sie hinter sich zu, klaubte die Einkaufstüten vom Boden auf und quälte sich die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf.
94
Jule schlüpfte aus den nassen Sachen und kochte sich einen Tee. Rolf klingelte nicht. Wieso auch? Was hatte sie sich nur eingebildet? Dass er ihr Mann fürs Leben war? Dass die Geschichte, die sie ihren Kindern später über ihr Kennenlernen erzählen würde, so begann: »Mama ist damals zu Papa in die Werkstatt
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