Der Wind bringt den Tod
verflog ihre anfängliche Befürchtung, der passionierte Autoliebhaber könnte womöglich nur auf ein und demselben Thema herumreiten. Das Gegenteil war der Fall: Sie spannten gemeinsam einen weiten Bogen von Film- und Musikvorlieben über die politische Großwetterlage bis hin zu Klatsch und Tratsch über die deutsche B-Prominenz. Er wartete in jeder Hinsicht mit einigen Überraschungen auf: Zwar hörte er überwiegend Metal, aber er versicherte ihr, dass er auch ein oder zwei Alben von Lauryn Hill und Coldplay im Schrank stehen hatte. Er schätzte Actionfilme, war allerdings einer romantischen Komödie »in der passenden Begleitung, und wenn sie gut gemacht ist« nicht abgeneigt. Er las vor jeder Bundestagswahl die Programme aller größeren Parteien, nur um seine Stimme immer wieder ein und derselben Partei zu geben.
Eines empfand sie als besonders angenehm. Ob nun bewusst oder unbewusst, Rolf klammerte zwei nahe liegende Gesprächsthemen völlig aus: die Arbeit und ihren bisherigen Lebenslauf. Für eine kurze kostbare Zeit war sie eine Frau ohne belastende Vergangenheit, die sich einfach nur gut mit einem ausgesprochen netten Mann unterhielt. Und das gefiel ihr, weil es sie unglaublich entspannte.
Zudem machte Rolf kein Geheimnis daraus, dass er sie mochte: Er sagte ihr zweimal, wie toll er es fand, dass sie sich über den Weg gelaufen waren.
Sie hatte nicht das Geringste dagegen, als er sie zurück ins Alsterhaus begleitete. Jules Stimmung schlug jedoch vorübergehend um, als Rolf an der Kasse stand, um das Korsett umzutauschen: Warum glotzte die ältere Frau Rolf so an? Jule hätte das gerade noch verstanden, wenn er allein vor dem Tresen aufgetaucht wäre, doch mit ihr im Schlepptau musste er doch einen gewissen Schutz vor irgendwelchen unhöflichen Verdächtigungen genießen. Wirkten sie denn nicht wie ein gewöhnliches Pärchen, das gemeinsam unterwegs war?
Zum Glück vergaß Jule ihren Groll schnell wieder. Rolf schloss sich ihr auf ihrem Rundgang durch das Kaufhaus an und zeigte eine Engelsgeduld, während sie Oberteile und Hosen anprobierte. Mehr noch: Er hatte wirklich einen guten Geschmack und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf mehrere schicke Teile, die sie ohne ihn übersehen hätte. Er wurde wieder rot, als sie ihn darauf ansprach, und meinte, er habe glatt seinen Beruf verfehlt, weil er einen hervorragenden Shoppingberater oder gar Stylisten abgeben würde.
Nach und nach fragte sich Jule, wo der Haken an diesem Mann war. Vor allem seine Kenntnisse in Sachen Mode weckten leise Verdachtsmomente in ihr: Was, wenn er am Ende schwul und nur auf der Suche nach einer freundschaftlichen Beziehung war?
Nach dem ausgedehnten Streifzug durchs Alsterhaus – Rolf hatte ihr letztlich zu Ma Dame geraten, und sie hatte seinen Rat beherzigt –, lud er sie zum Essen bei einem Italiener in den Kolonnaden ein. Dort zerstreute Rolf Jules Bedenken über seine sexuelle Orientierung, ohne es zu ahnen. Zum einen starrte er der Bedienung einmal sehr lange auf den ausladenden Hintern, zum anderen wurde er mutiger und direkter: Noch vor dem Hauptgang – Pizza Frutti di Mare für ihn, hausgemachte Ravioli auf grünem Pesto für sie – betonte er, noch nie einer so unkomplizierten Frau wie Jule begegnet zu sein. Beim Espresso fand er dann den Mut, ihr zu sagen, dass sie genau in sein Beuteschema falle, was wahrscheinlich an den drei Gläsern Wein lag, die er im Verlauf des Essens getrunken hatte.
Jule genoss die Situation mit jeder Minute mehr, und sie bedauerte es, als es Zeit war, die Rechnung zu begleichen. Ihm erging es scheinbar ähnlich, denn nach dem Verlassen des Restaurants blieb er unschlüssig stehen.
Nachdem sie sich eine halbe Minute angeschwiegen hatten, blickte Jule hinauf zum düsteren Himmel, der sich immer weiter mit dunklen regenschweren Wolken zuzog. »Ich müsste dann mal los.«
»Ich könnte dich nach Hause bringen«, bot er sofort an. Er zuckte mit den Schultern. »Also nur, wenn du magst, meine ich.«
Jule spürte ihr Herz schneller schlagen, und der Mund wurde ihr trocken. Der Zauber der Unbeschwertheit, der über den letzten Stunden gelegen hatte, ging ein Stück weit verloren. »Bist du … bist du mit dem Auto da?«
»Ach was.« Sein Kopfschütteln wirkte wahre Wunder gegen das Aufwallen ihrer Angst. »Mit dem Auto in die Stadt fahren? Ich bin doch nicht bescheuert.«
»Okay, dann …« Sie schaute die Fußgängerzone hinunter, zu dem weiß-blauen Schild der nächsten U-Bahn-Station.
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