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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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krakeligen Kreidezeichnungen verziert war. In dieser Hinsicht war die Welt in Odisworth noch vollkommen in Ordnung. Nichts deutete darauf hin, dass die ländliche Idylle vielleicht die Heimat eines Mörders war.
    Der Unterricht hatte bereits begonnen, die Zahl der Lehrkräfte an der Dorfschule blieb aber in einem überschaubaren Rahmen. Umso mehr beschlich Jule das unheimliche Gefühl, die Fahrer der übrigen Autos hätten einen gehörigen Bogen um ihren Dienstwagen gemacht und möglichst weit weg von ihr geparkt. Dass im Kofferraum des BMW nach wie vor der Geruch von altem Schweiß herrschte, verstärkte Jules aufkeimende Beklemmungen nur noch mehr.
    Schon beim Einsteigen sagte sie das erste Mal ihr Mantra auf. »Meine Angst gehört zu mir, aber ich bin nicht meine Angst.«
    Sie drückte den Startknopf und verkrampfte innerlich, als der starke Motor zum Leben erwachte. »Meine Angst gehört zu mir, aber ich bin nicht meine Angst.«
    Sie gab Caros Adresse ins Navi ein und klammerte sich an dem Gedanken fest, dass ihre erste Fahrt nicht in einer Katastrophe geendet hatte. »Meine Angst gehört zu mir, aber ich bin nicht meine Angst.«
    Eine Sprecherin des Infosenders, auf den Jule das Radio eingestellt hatte, berichtete von den nach wie vor immensen Risiken der Erdölförderung bei Tiefseebohrungen.
    Bedeutete die erste erfolgreich absolvierte Fahrt am Ende denn nicht lediglich, dass die Wahrscheinlichkeit für einen tragischen Zwischenfall bei der kommenden Fahrt gestiegen war? »Meine Angst gehört zu mir, aber ich bin nicht meine Angst.«
    Was Jule letztlich dazu bewegte, den Rückwärtsgang einzulegen und kriechend langsam aus der Parklücke zu rollen, war ihr Mangel an Alternativen: Sie wollte so schnell wie möglich weg von Odisworth.
    Es kam ihr sehr gelegen, dass sie unmittelbar nach dem Abbiegen vom Schulparkplatz hinter einem Traktor festhing, der in gemächlichem Tempo vor ihr hertuckerte. Es kümmerte sie auch nicht, dass kurz vor dem Schild, das das Ortsende von Odisworth markierte, eine ungeduldige Frau in einem zerbeulten Kombi hinter ihr ausscherte, um Jule und den Traktor zu überholen. Sie würde schön hinter dem Bauern bleiben. Insgeheim wünschte sie sich, er könnte aus unerfindlichen Gründen ins Hamburger Schanzenviertel wollen und ihr bis zu ihrem Ziel als Puffer für ihre Angst dienen.
    Ganz so weit fuhr er zwar nicht, aber immerhin begleitete sie der Traktor bis zu jenem Wäldchen, an dem am vorigen Abend die Straßensperre errichtet worden war. Inzwischen hatte die Polizei eine der beiden Spuren wieder freigegeben. Zwei Männer in weißen Overalls lehnten am Kühler eines silbergrauen VW-Kombis und tranken Kaffee aus Pappbechern. Zwischen den Baumstämmen am Waldrand war ein rot-weißes Plastikband gespannt, und bei dem kurzen, kaum eine Sekunde dauernden Blick zur Seite, konnte Jule weitere Personen in Overalls ausmachen, die vorsichtig und mit gesenkten Köpfen durch das Unterholz streiften. Ob Smolski unter ihnen war? Hatte er bereits eine heiße Spur gefunden? Oder suchte man noch nach ersten Hinweisen auf den Täter? Aber welche dieser Hinweise sollte es Monate nach dem Mord noch geben? Alle Fußabdrücke hatten Wind und Regen doch bestimmt längst weggewischt, und Jule bezweifelte, dass sich nach so langer Zeit noch DNA-Spuren finden ließen.
    »Biegen Sie in zweihundert Metern scharf nach links ab«, forderte die Frauenstimme aus dem Navi. Jule wollte schon auf die Bremse treten, ließ es aber. Warum sollte sie nach links abbiegen? Obwohl ihr der Traktor die Sicht versperrte, verstand Jule, wohin sie das Navi gerade lotsen wollte: auf den Waldweg, der sie am Abend zuvor zu dem unheimlichen Gehöft geführt hatte. Das konnte unmöglich stimmen. Sie brauchte doch nur der Straße, auf der sie gerade war, zu folgen, um zur A7 zu kommen. Oder schlug ihr das Navi eine Abkürzung vor? Selbst wenn dem so wäre, würde Jule in jedem Fall darauf verzichten. Keine zehn Pferde würden sie dazu bringen, noch einmal durch diesen Wald zu fahren. Selbst bei Tageslicht nicht, seit sie wusste, dass dort ein Mörder sein Opfer versteckt hatte. Sie packte das Lenkrad fester und starrte stur geradeaus.
    »Biegen Sie jetzt links ab«, drängte sie das Navi.
    Jule ignorierte es. »Ich fahr da nicht lang«, murmelte sie. »Das kannst du vergessen.«
    Sie passierte die Stelle, an der der schmale Weg von der Straße abzweigte. »Bitte wenden! Bitte wenden!«, beharrte das Navi noch einen Moment auf seinem

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