Der Wind bringt den Tod
jedes Spiel Regeln brauchte, sonst wäre es ein langweiliges Spiel. Nur einmal war sein Vater gekommen, als er einen der Soldaten bestraft hatte. Einmal nur. Doch das hatte gereicht, um sich blutige Schläge einzufangen. Danach hatte er aufgehört, mit den Soldaten zu spielen. Aber sein Vater war nicht der Schlimmste gewesen. Seine Mutter war noch viel schlimmer gewesen. Sie war sehr lieb zu ihm, aber wenn sein Vater wütend wurde und ihn schlug, half sie ihm nicht. Sie stand einfach nur da und heulte und schrie. Bis alles vorbei war. Bis er im Bett lag. Dann kam sie zu ihm und presste ihn an sich und sagte ihm, wie sehr sie ihn liebte. Sie war dumm. Sie verstand nicht einmal, welche Schmerzen sie ihm damit bereitete, wenn sie seine zerschundenen Knochen an sich drückte. Manchmal sprang der Schorf auf seinen Wunden wieder auf, wenn sie ihn im Arm hielt, und sie merkte es nicht. Sie war die Schlimmste gewesen.
Es war nicht seine Schuld. Er brauchte es. Er brauchte sie . Die letzte Frau war fast wie sie gewesen.
Sie lag still, wenn sie still liegen sollte.
Sie zog die Kleider an, die er für sie ausgesucht hatte.
Sie schlüpfte in die Schuhe, die er am liebsten an ihr mochte, und sie passten ihr ganz genau.
Sie war fast wie sie gewesen.
Er hatte schon die Hoffnung gehabt, er könnte mit ihr glücklich werden. Bis diese Frau angefangen hatte, die Fragen zu stellen, die sie ihm nie hätte stellen dürfen.
Warum machst du das?
Warum bist du so?
Warum tust du mir weh?
Er war damals furchtbar wütend geworden. Auf diese Frau, aber vor allem auf sich selbst. Weil er beinahe einen Fehler gemacht hätte. Weil er sie beinahe für sie gehalten hatte. Er fühlte sich selbst wie ein Lügner, wie ein Heuchler, wie ein Verräter. Da hatte er diese Frau weit fortgebracht, und er hatte sie einfach weggeworfen. Und trotzdem hatte er weinen müssen, als sie aus seinem Leben verschwand. Komisch. Sonst weinte er nie. Aber jetzt war sie wieder da, und alles würde gut werden. Er brauchte nur zu warten, bis sie endlich zu ihm kam.
26
Nach Smolskis überraschendem Abgang ließ sich Jule von Caro noch ein paar Minuten die Seele massieren. So gern sie auch Caros Glauben an die unerschütterliche Weisheit des Tarots teilen wollte, so sehr quälte sie die Vorstellung, der Kommissar – nein, der Hauptkommissar – könnte nur mit ihr gespielt haben. Am Ende war er einer von den Männern, die mit jeder einigermaßen ansehnlichen Frau schäkerten, und vielleicht war Jule schon jetzt zu einer Anekdote geworden, die Smolski bei einer ereignislosen Schicht seinen Kollegen zum Besten geben würde. Sie konnte schon seine tiefe Stimme hören. »Damals, als wir da diese Leiche in Odisworth entdeckt haben, hätte ich definitiv bei so einer Blondine aus Hamburg landen können, wenn ich es darauf angelegt hätte …«
Sie ärgerte sich über sich selbst. Sie war jetzt fast dreißig und hatte bei Gott mit mehr als nur einem Mann ihre Erfahrungen gemacht. Trotzdem konnte sie es nicht lassen, jedem noch so belanglosen Flirt Bedeutung beizumessen. Sie kam sich vor wie mit vierzehn, als ein Junge so getan hatte, als wollte er sie küssen. Als sie ihre Lippen gespitzt hatte, brach er in schallendes Gelächter aus, und eine Horde gleichaltriger Jungs, die sich hinter ein paar Fahrrädern versteckt hatten, mit ihm. »Als würde ich eine wie dich küssen. Streberin.« Jule seufzte. »Manche nehmen das Leben eben leichter als du, Jule«, hörte sie Caro in ihrem Kopf, obwohl das Telefonat längst beendet war.
Als Jule durch die Terrassentür trat, haftete ihr Blick wie gebannt auf dem Platz, an dem Smolski gesessen hatte. Seine Zeitung war ordentlich zusammengefaltet, als hätte er nie darin gelesen, und wenn die Krümel auf dem Tisch nicht gewesen wären, hätte sie geglaubt, sie habe sich das Gespräch mit ihm und vor allem seine Zeichen nur eingebildet.
Scharrend öffnete sich eine Schiebetür. »Ja, ja. Das ist schon ein schöner Mann. Und noch zu haben. Wenn ich nicht so glücklich verheiratet wäre …«
Die zierliche Mittfünfzigerin, die mit einem feuchten Tuch in der Hand aus der Küche hereinkam, lachte herzlich und fing damit an, die letzten Spuren von Smolskis Anwesenheit zu beseitigen. »Haben Sie gut geschlafen?«
»Ja, danke«, sagte Jule tonlos.
»Sie haben ja noch gar nichts gegessen«, tadelte sie die Frau – allem Anschein nach die Dame des Hauses – und plapperte munter weiter. »Ich krieg auch kaum was runter. Das
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