Der Wind der Erinnerung
ihren Lohn mit einer großzügigen Prämie aufstocken konnte.
»Das kann ich nicht annehmen, Beattie«, sagte Charlie. »Das Geschäft gehört dir, du trägst das volle Risiko, also solltest du auch die Belohnung dafür erhalten.«
»Du hast auch viele Risiken auf dich genommen«, konterte sie. »Du hast monatelang ohne richtige Bezahlung für mich gearbeitet.«
Er drückte ihr den Umschlag wieder in die Hand. »Gib mir das, was mir zusteht, und keinen Penny mehr. Kauf lieber Schafe. Wofür soll ich das Geld denn ausgeben? Kauf Schafe, und mach dein Geschäft noch stärker, damit ich nächstes und übernächstes Jahr auch noch Arbeit habe. So kannst du mich am besten belohnen.«
Beattie befolgte seinen Rat und kaufte weitere fünfzehnhundert Schafe, die im November eintreffen würden.
Und sie hatte endlich Geld für Möbel. Sie öffnete das Esszimmer und stellte einen Tisch für sechs Personen hinein; zwei Sofas kamen ins Wohnzimmer. Sie kaufte ein Bett für Lucy und brachte es in das Zimmer neben ihrem. Es blieb sogar Geld für Teppiche und Vorhangstoffe, für Strom und Telefon. Wildflower Hill verwandelte sich in nur einem Monat in ein richtiges Zuhause. Zu Beginn der Weihnachtsferien kam Lucy, und zum ersten Mal, seit sie Henry vor so vielen Jahren verlassen hatte, konnte Beattie ihrer Tochter alles bieten, was sie brauchte.
Sie hatte es genau durchdacht. Sie würde eine Gouvernante einstellen, die Lucy unterrichtete, und auch eine Küchen- und Haushaltshilfe. Lucy würde etwas über die Farm lernen, das Reiten und Zusammentreiben und all die unzähligen Aufgaben, die Beattie und Charlie gemeinsam erledigten. Wenn sie eine junge Frau war, könnte sie mit ihrer Mutter zusammen die Geschäfte führen und die Farm irgendwann erben. Beattie wusste, dass sie ihrer Tochter mehr bieten konnte als Henry und Molly, mehr als ein Leben, in dem sie eingezwängt war zwischen Stadt, Schule und Kirche. Sie konnte mehr sein als ein guterzogenes Mädchen, aus dem eine guterzogene Frau wurde.
Doch Beattie hütete sich, Henry und Molly direkt anzusprechen. Stattdessen rief sie Leo Sampson an und bat ihn zu einem Gespräch.
Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er ihr vor über einem Jahr Schlüssel und Papiere für die Farm überreicht hatte, und auch nicht mehr mit ihm telefoniert, seit sie sich geweigert hatte, einen weiteren Teil ihres Besitzes an Jimmy Farquhar zu verkaufen. Er war freundlich und hilfsbereit wie immer.
»Also, Beattie«, sagte er und stellte seine abgeschabte lederne Aktentasche auf den Esstisch, »Sie haben aus diesem Besitz wirklich etwas gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie es schaffen.«
»Charlie Harris hat mir sehr geholfen.« Sie setzte sich ihm gegenüber. »Er war wunderbar.«
Leo runzelte die Stirn.
In ihrem eigenen Heim würde sie keine kleinlichen Vorurteile dulden. »Sie auch, Leo? Sie glauben doch nicht diesen Unsinn, dass er Raphael bestohlen hat. Gerade Sie sollten wissen, was für ein Mann Raphael Blanchard war.«
»Das tue ich, und ich weiß auch, dass Charlie Harris ein guter Mensch ist. Aber in der Stadt wird schlecht über ihn geredet, und einige sagen …« Er suchte nach Worten. »… dass Sie ihn nicht hierhaben sollten.«
»Ohne ihn wäre ich schon vor einem Jahr untergegangen.«
»Ja. Aber Sie dürfen nicht den Neid der Menschen unterschätzen. Sie waren ein Hausmädchen. Und jetzt ist Ihre Farm eine der erfolgreichsten, fast so erfolgreich wie die von Farquhar. Dass Sie einen Schwarzen beschäftigen, der als Dieb gilt …« Er verstummte. »Hören Sie, Beattie, ich weiß, wie hart Sie hier gearbeitet haben. Aber Sie müssen auch etwas für Ihre Beziehung zu den Leuten in der Stadt tun. Man ist Ihnen dort nicht wohlgesinnt. Sie sind ein Teil der Gemeinde, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Ihr Geschäft hängt nicht nur von guten Verkäufen, sondern auch vom guten Willen anderer Leute ab.«
Die Türen zum Hof standen offen, und der Sommerwind trug den Geruch von Erde und Wildblumen herein. Beattie seufzte tief. »Danke für Ihre Sorge, Leo, aber eigentlich wollte ich mit Ihnen nicht übers Geschäft sprechen.«
Er nahm Füllfederhalter und Notizblock heraus und rückte die Brille zurecht. »Bitte.«
»Ich will meine Tochter zurück. Ich weiß, dass Henry und seine Frau einen Anwalt engagieren werden, und deshalb wollte ich mich zuerst mit Ihnen beraten.«
Er notierte sich etwas und schaute sie an. »Die beiden wollen wegen des Sorgerechts vor Gericht
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