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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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das Pferd einzureden.
    Ein heftiger Wind heulte durch die Baumwipfel. Der Mond verschwand hinter den Wolken und tauchte wieder auf. Irre Schatten zuckten über die Straße; es war, als würde sich die Nacht selbst bewegen und schütteln.
    Beattie klammerte sich verzweifelt fest und trieb Abby voran. Ihre Hände an den Zügeln brannten vor Kälte, Nase und Augen tränten. Ihr ganzer Körper zitterte vor Angst um Mikhail und Sorge um sich selbst. Sie durfte nicht stürzen und sich auch noch verletzen. Die Straße glitt unter ihr dahin, Abby fand ihren Rhythmus, und dann galoppierten sie über den festgetretenen Lehm in Richtung Stadt.
    Die kleinen Häuser waren in tiefe Dunkelheit getaucht. Es musste schon nach Mitternacht sein. Sie fand den Weg zu Dr. Malcolms Haus und band Abby am Zaun fest. Ihre Nase und Wangen waren eisig, die Ohren schmerzten.
    Es dauerte fast fünf Minuten, bis sich jemand auf ihr Klopfen meldete. Das Licht auf der Veranda wurde angeschaltet, die Tür öffnete sich. Dr. Malcolm stand im Bademantel da, seine Frau blickte ihm über die Schulter.
    »Was ist los?«, fragte er unwillig.
    »Einer meiner Männer auf Wildflower Hill hat Wundstarrkrampf.«
    Dr. Malcolm schien mit sich zu kämpfen und seufzte. »Ich kann nicht kommen.«
    »Aber er könnte sterben.«
    »Wundstarrkrampf, sagen Sie?« Er rieb sich das Kinn und sagte zögernd: »Ich gebe Ihnen ein Antitoxin mit. Und ein Beruhigungsmittel gegen die Krämpfe. Wenn es ihm morgen nicht bessergeht, komme ich.«
    Sie war zu müde, durchgefroren und verzweifelt, um höflich zu sein. »Wir haben kein Telefon«, fauchte sie. »Darum bin ich auch den ganzen Weg im Dunkeln geritten. Sie sind Arzt. Sie müssen uns helfen.«
    Er überlegte. Beattie glaubte schon, er werde seine Meinung ändern, als seine Frau ihm die Hand auf die Schulter legte und keifte: »Es ist ein Uhr morgens. Er kommt jetzt nicht. Welcher Ihrer Männer ist es denn? Der Abo oder der Rote?«
    Beattie bezwang ihren Zorn. »Mikhail ist kein Roter.«
    »Er spricht nur Russisch.«
    »Er spricht durchaus Englisch.«
    »Ich gebe Ihnen die Medizin«, sagte Dr. Malcolm und schob seine Frau beiseite. »Morgen früh komme ich sofort und sehe nach ihm. Du gehst wieder ins Bett. Es dauert nur ein paar Minuten.«
    Seine Frau warf Beattie einen Blick zu – drückte er Überlegenheit aus? Mitleid? Oder keins von beiden. Jedenfalls musste Beattie sich abwenden, sonst wäre ihr Zorn übergekocht.
    Der Arzt gab ihr zwei kleine Glasflaschen, eine Spritze und die entsprechenden Anweisungen. Dann schob er sie in die Kälte hinaus, ohne ihr dabei in die Augen sehen zu können, und kehrte zurück in sein warmes Bett. Beattie band Abby los und machte sich auf den eisigen Ritt nach Hause.
     
    Beattie ließ das gesattelte Pferd im Stall stehen und rannte ins Haus. Sie fürchtete sich vor dem, was sie dort erwartete. Sie rechnete schon damit, dass Charlie sagen würde, Mikhail sei gestorben, und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
    Charlie hörte sie und trat in den Flur. Er rührte gerade eine klebrige, stark riechende Substanz in einer Holzschale an.
    »Es sieht nicht gut aus«, stieß er hervor. »Er hatte gerade einen Anfall, konnte nicht atmen. Kommt der Arzt?«
    Beattie schüttelte den Kopf und zeigte ihm die beiden Flaschen. »Er braucht zwei davon und eine Spritze. Du musst mir helfen, Charlie. Ich kann es nicht allein. Ich weiß nicht, ob er überhaupt schlucken kann.«
    Charlie schaute sie an und nickte. Er nahm die Flaschen, wobei seine warmen Finger die ihren flüchtig berührten. Dann gingen sie gemeinsam in Mikhails Zimmer.
    Charlie stellte die Holzschale neben das Bett auf den Boden. Beattie konnte nicht hinsehen, als er seinen Freund zwang, die Tabletten zu schlucken. Sie konzentrierte sich stattdessen darauf, das Antitoxin um die Wunde herum zu spritzen. Als sie fertig war, rannte sie aus dem Zimmer und wartete im Flur, das Gesicht in den Händen vergraben. Sie war den Tränen nahe, riss sich aber zusammen. Mikhail war so gut zu ihr gewesen, so loyal und fleißig. Sie könnte es nicht ertragen, wenn er stürbe. Das Bild seines verkrümmten, überdehnten Körpers verfolgte sie.
    Als ein leises Singen ertönte, hob sie den Kopf. Sie blickte in das dämmrige Zimmer, wo sich Charlie über Mikhails Füße beugte und die scharf riechende, ockerfarbene Salbe um die Wunde herum auftrug. Die Melodie, die er sang, war einfach und eindringlich zugleich, und Beatties Herz zog sich zusammen. Es

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