Der Wind der Erinnerung
drauflos: »Die hier habe ich genäht … Ist gute Arbeit, aus einheimischer Wolle.« Sie holte jeweils einen Rock hervor: einen langen, schlankgeschnittenen und einen glockigen. »Ich möchte sie irgendwo verkaufen und habe mich gefragt, ob ich sie Ihnen auf Kommission hierlassen kann.«
Diesmal bewegten sich Tillys Mundwinkel in die andere Richtung. Sie schien Beatties Anfrage amüsant zu finden. »Das meinen Sie doch nicht ernst? Es gibt nicht einen Menschen in der Stadt, der etwas kaufen würde, das Sie genäht haben.«
Beattie faltete die Röcke wieder in Seidenpapier, bemüht, ihre Würde zu wahren. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie niemals hätte herkommen dürfen. Sie hätte mit dem Bus nach Hobart fahren und ein größeres Geschäft aufsuchen sollen, in dem sich Frauen mehr für die Mode als für die dunkle Vergangenheit der Modeschöpferin interessierten. Sie wollte schon gehen, doch der Ärger gewann die Oberhand. »Was habe ich Ihnen oder sonst jemandem hier eigentlich getan, dass man mich so schäbig behandelt?«
Tilly wirkte verblüfft, überdachte die Frage vielleicht zum ersten Mal. Ein Herdentier, das plötzlich am Tun der anderen zweifelt. Dann wurde ihr Gesicht wieder hart. »Es gibt viele ehrliche, fleißige Leute. Es ist ihr Recht, jemanden wie Sie nicht zu mögen.«
»Ich bin ehrlich. Ich bin fleißig.«
»Da habe ich etwas anderes gehört.«
Am liebsten hätte Beattie gebrüllt und mit den Füßen gestampft, die Gläser mit Süßigkeiten und die Postkartenständer von der Theke gefegt. Sie holte tief Luft. »Sie wissen gar nichts von mir.« Mit diesen Worten verließ sie den Laden.
Vom nächsten Ertrag würde sie sich ein Auto kaufen und ihre Einkäufe in Bligh oder Bothwell erledigen. Bis dahin musste Mikhail das übernehmen, denn Beattie würde mit keinem Menschen in dieser Stadt je wieder auch nur ein Wort wechseln.
Schließlich war es Molly, die ihr half, ihre Kleidungsstücke zu verkaufen. Als sie und Henry Lucy in den Winterferien brachten, fand Molly den Stapel hinter dem Sofa.
»Was ist das denn?« Sie entfaltete einen Rock. »Und warum hast du so viele davon?«
Beattie erklärte, dass sie sie selbst entworfen und genäht hatte – was Molly sehr überraschte –, in den örtlichen Geschäften aber kein Glück gehabt hatte.
»In meiner Kirchengemeinde habe ich eine Freundin, die bei FitzGerald’s in Hobart arbeitet. Ich kann sie mitnehmen, wenn du möchtest.« Dann schloss sie rasch den Mund, als könnte sie ihr Angebot bereuen.
Beattie war so verzweifelt, dass sie die unausgesprochenen Spannungen ignorierte. »Das würdest du tun?«
»Ich … Ja, natürlich.« Mollys Blick wanderte flüchtig zu Henry, der entnervt den Kopf schüttelte. »Ich frage für dich.«
»Danke. Ich weiß nicht, was sie wert sind. Deine Freundin soll einen Preis vorschlagen. Und sie kann mich gerne anrufen.« Sie reichte Molly den Stapel. »Behalte einen für dich selbst.«
Sie winkte ihnen fröhlich nach, den Arm um Lucys Schultern gelegt.
»Warum lächelst du so, Mummy?«
Beattie drückte sie an sich. »Ehrliche Arbeit, Lucy. Die belohnt sich immer selbst.«
Beattie hatte ein Stück Stoff zurückbehalten, weil sie etwas Besonderes damit vorhatte: Sie wollte Charlie einen Mantel nähen. Der alte graue Mantel, den er trug, wenn er die Schafe zusammentrieb, fiel an den Schulternähten auseinander. Sie hatte ihn schon drei- oder viermal ausgebessert. Doch sie stellte sich vor, wie er in dem selbstgenähten Mantel mit den Raglanärmeln und dem Futter aus Schaffell aussähe, das ihn im Winter wärmen würde. Doch es sollte eine Überraschung sein, und sie hatte ihn in den letzten Monaten mit den Augen vermessen. Als er an diesem Abend in die Küche kam, eingehüllt in einen leichten Geruch nach Pferd und Schweiß, schätzte sie die Breite seiner Schultern und die Länge seiner starken Arme.
Während sie ihn gründlich musterte, war der Schmerz in ihrem Inneren kaum zu ertragen. Was machte es schon? In der Stadt dachten ohnehin alle schlecht von ihr. Sie konnte niemanden mehr vor den Kopf stoßen. Was machte es schon, wenn sie ihn begehrte? Als er sich so viel Mühe gegeben hatte, um ihr den Stoff zu besorgen, hatte er ihr sicher zeigen wollen, dass sie etwas Besonderes für ihn war. Während die Wochen vergingen, hatte sie jedes seiner Worte, jeden Gesichtsausdruck nach Beweisen dafür abgesucht. Und manchmal blitzte es einen Moment lang auf, wenn er sich unbeobachtet glaubte.
Der
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