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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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ihr. Er berichtete von Erinnerungsfetzen an seine Kindheit, weit oben im Norden, wo es warm und feucht war, das Meer grün und der Himmel so blau, dass seine Augen schmerzten. Er hatte früh begriffen, dass er nicht die gleiche Hautfarbe wie seine geliebte Mutter hatte und die anderen Leute deswegen misstrauisch waren. Er erzählte, dass weiße Männer ihn in eine besondere Schule für Kinder wie ihn gebracht hätten, dass seine Mutter geweint und gesagt habe, es sei zu seinem Besten; dass er durcheinander und orientierungslos gewesen sei und schon geahnt habe, dass er sie nicht wiedersehen werde.
    »Sie können sich nicht vorstellen, Missus, wie das ist, wenn die Leute um Sie herum sagen, dass etwas gut für Sie ist. Aber tief drinnen haben Sie ein ganz schlechtes Gefühl …« Seine Stimme verstummte unter dem Ansturm der Gefühle.
    Sie griff nach seinen Fingern, doch er zuckte zusammen, und sie zog die Hand wieder weg. Nun kam der dunkelste Teil der Nacht, in dem die Geheimnisse an die Oberfläche dringen. Jeder Nerv in ihrem Körper sehnte sich danach, ihn zu berühren, doch sie bezwang sich. Es war nicht richtig, sie durfte nicht vergessen, dass er ihr Angestellter war. Als seine Geschichte zu Ende war, erkundigte er sich nach ihrem Leben, und sie berichtete von den kindischen Träumen, Kleider zu nähen, von ihrer Liebe zu Stoffen und Entwürfen, von ihren Phantasievorstellungen, etwas aus der Wolle herzustellen, die sie hier auf Wildflower Hill erzeugten. Ermutigt durch sein Interesse entschlüpften ihr noch einige andere Wahrheiten: über Henry, über Lucy und sogar über Raphael und wie sie in den Besitz der Farm gelangt war. Darüber musste er geschlagene zehn Minuten lachen.
    Irgendwann inmitten der Worte und Geschichten kam die Dämmerung. Und mit ihr schwand auch Mikhails Fieber. Kurz darauf traf Dr. Malcolm ein, worauf Charlie in sein Häuschen zurückkehrte. Der Bann der Nacht war vorüber, der Alltag meldete sich zurück. In etwa einer Woche wäre Mikhail wieder gesund.
    Doch Beattie fürchtete, ihr Herz könnte nicht mehr das alte sein.

[home]
    Einundzwanzig
    H ätte Beattie nicht Charlie an ihrer Seite gehabt, wäre die Schafschur eine Katastrophe geworden.
    Fünf Scherer zogen ins Häuschen und verlangten gewaltige Portionen zum Frühstück und Abendessen. Beattie stand vor der Wahl, ihr letztes Geld für sie oder die Zinsen aufzuwenden, und entschied sich für die Männer. Sie schrieb an die Bank, sie könne ihre Zinszahlungen erst nach der Schafschur begleichen, und hoffte das Beste.
    Da kein Geld für zusätzliche Helfer vorhanden war, mussten auch Beattie und Mikhail mithelfen. Sie trieb morgens die Schafe zusammen und kochte am Nachmittag; Mikhail kümmerte sich um die Tore und schleuste die Schafe in die Pferche. Die Hunde arbeiteten so schwer, dass sie nachmittags umfielen und wie tot schliefen. Charlie hatte die Oberaufsicht. Er wusste immer, wo jeder war, rief die Anweisungen mit seiner langsamen, sanften Stimme, bewegte die Schafherden von einem Ende des Anwesens zum anderen und sorgte dafür, dass jeder Scherer achtzig Tiere am Tag schaffte.
    Da im Schererhäuschen wenig Platz war, zog er ins Haus und breitete seinen Schlafsack in einem der Zimmer im ersten Stock aus. Wenn Beattie abends schlafen ging, spürte sie seine Nähe. Er war nur zwei Türen weiter, zwischen ihnen nur der dunkle Flur … Sie dachte an seinen ausgestreckten Körper, die warme Haut … Dann aber verdrängte sie den Gedanken oder schlief vor Erschöpfung ein. Am nächsten Tag versuchte sie, ganz normal mit Charlie umzugehen. Er ließ sich nicht anmerken, ob er in ähnlicher Weise an sie dachte.
    Am vierten Abend der Schafschur ging Beattie gerade müde nach oben, als Charlie mit nassem Haar aus dem Badezimmer auftauchte. Er trug Jeans und ein weites Hemd.
    »Gute Nacht, Charlie«, rief sie, als er zu seinem Zimmer ging.
    »Gute Nacht, Beattie«, erwiderte er und schloss die Tür.
    Beattie.
Nicht Missus. Ihren Namen aus seinem Mund zu hören bereitete ihr ein sanftes und unerwartetes Vergnügen. Ihr wurde warm ums Herz, und sie musste lächeln.
     
    Dann endlich kam Geld herein.
    Der Wollklassierer hatte die Vliese als sehr fein eingestuft, dennoch besaßen sie ein gutes Gewicht. Der Ertrag war größer, als Beattie erwartet hatte. Sie konnte ihr Darlehen ablösen, nachdem sie bereits zunehmend unfreundliche Mahnungen erhalten hatte. Wichtiger noch aber war, dass sie Mikhail und Charlie endlich bezahlen und

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