Der Wind der Erinnerung
Abend dankte es ihr Körper, weil sie keinen Sonnenbrand oder die Schwielen an ihren Händen behandeln musste.
Der Herbst vergoldete die Blätter der Pappeln am Rand der Einfahrt. In diesem Jahr fürchtete sie sich nicht vor dem Winter, sie bemerkte kaum den Wechsel der Jahreszeiten. Der Regen hatte die Weiden und Hügel aufgeweicht, aber sie fühlte sich behaglich in ihrem Haus. Lucy schlief oben in ihrem warmen Bett und würde in zwei Tagen nach Hobart zurückkehren.
Beattie saß gerade an der Nähmaschine, die im Wohnzimmer vor dem Fenster stand, und ließ die Säume von Lucys Schuluniform aus. Das Mädchen wuchs unaufhaltsam. Beattie und Henry hatten eine Übereinkunft getroffen: Er würde sich um die Schuhe kümmern, sie um die Uniformen. Sie summte beim Nähen vor sich hin, und das Pedal der Maschine quietschte in einem tröstlichen Rhythmus. Im Radio sprach jemand über Deutschland. Im Augenblick redeten alle über Deutschland. Sie war froh, so weit von Europa entfernt zu leben. Dann spürte sie eine Bewegung hinter sich und drehte sich um.
Charlie stand grinsend auf der Schwelle.
Sie lächelte. Sie freute sich immer, ihn zu sehen. »Was ist los?«
»Ich habe etwas für dich.« Er deutete auf ein Sofa. »Setz dich, und mach die Augen zu.«
»Was ist es denn?«
»Na los.«
Beattie schaltete das Radio aus und setzte sich aufs Sofa.
»Ich habe schon seit Wochen danach gesucht. Vielleicht wirst du einige Anrufe nach Launceston auf der Telefonrechnung finden. Aber es wird dir gefallen.«
Ihr Körper kribbelte vor Neugier. Dann fiel etwas Großes, Schweres in ihren Schoß. Sie öffnete die Augen. Es war ein Ballen schwarzen Tuches.
»Wolle.« Sie strich mit den Fingern darüber. »Edle Wolle.«
»Deine Wolle.«
»Du meinst …«
»Ich habe mit dem Verkaufsagenten gesprochen, und er hat mir den Weber genannt, der fast deinen gesamten Ertrag gekauft hat. Die Wolle wird versteigert und immer weiter verkauft … Wir wissen nicht, ob es alles deine ist, aber es ist jedenfalls tasmanische Wolle aus dieser Region. Da könnte auch ein bisschen Wildflower Hill drin sein.«
Beattie wickelte ein Stück ab und rieb es zwischen den Fingern. Sie spürte eine Verheißung, wie sie sie seit ihrer Teenagerzeit nicht empfunden hatte.
»Sie hatten leider nur Schwarz.«
Beattie bemerkte, dass sie noch gar nichts zu dem Geschenk gesagt hatte. »Vielen Dank«, sagte sie atemlos. »Es bedeutet mir sehr viel.«
»Ich weiß. Mir ist eingefallen, was du mir in der Nacht erzählt hast, in der Mikhail krank war.«
Sie sah ihn an, und einen Moment lang bohrten sich ihre Blicke ineinander. Dann wandte er den Blick ab. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Er hatte sich so viel Mühe gegeben … Wieso? Konnte es etwas anderes sein als ein Zeichen seiner Zuneigung? Vielleicht auch seines Begehrens?
»Also gut.« Er schlenderte zur Tür.
»Ich nähe dir etwas.«
»Nein, kümmere dich nicht um mich. Behalte es für dich selbst.«
Dann war er verschwunden. Beattie wickelte noch ein Stück Stoff ab und hielt es an ihr Gesicht. Sie hatte eine tolle Idee. Im Geiste entwarf sie schon ein Schnittmuster.
Sie arbeitete den ganzen April und Mai hindurch und nähte kein einziges Stück für sich selbst oder Lucy. Stattdessen entwarf sie zwei Röcke und stellte von jedem Modell zehn Stück in verschiedenen Größen her. Dann bestickte sie zwanzig Etiketten mit den Worten
Blaxland Wool
und nähte sie in die Säume. Sie war unsagbar stolz auf diese Etiketten. Liebevoll faltete sie jeden Rock zwischen Seidenpapier und stapelte sie auf dem Sofa auf.
Leo Sampsons Worte ließen ihr keine Ruhe:
Sie sind ein Teil der Gemeinde, ob es Ihnen gefällt oder nicht.
Er hatte recht, sie war auf den guten Willen der Leute angewiesen. Vor allem auf den von Tilly Harrow, weil sie wollte, dass diese ihre Kleidung im Kolonialwarenladen anbot.
An einem schönen, klaren Freitagmorgen machte sie sich auf den Weg in die Stadt, um mit Tilly zu sprechen.
Nachdem diese den Klatsch von Margaret Day gehört hatte, war sie Beattie fortan kühl begegnet. Beattie hatte auch nicht mehr versucht, sich mit ihr anzufreunden, nicht einmal gelächelt. So konnte sie die Ablehnung leichter ertragen. Heute aber setzte sie ein Lächeln auf, während sie vor der Theke wartete.
»Morgen«, sagte Tilly unverbindlich, ohne ihr in die Augen zu sehen.
»Tilly, ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten.«
Ihre Mundwinkel rutschten nach unten.
Beattie redete einfach
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