Der Wind der Erinnerung
Mantel wurde viel mehr für sie als ein Kleidungsstück; er wurde ein mächtiges Symbol ihrer Leidenschaft. Wenn Charlie abends ins Bett gegangen war, blieb sie noch auf und arbeitete daran, nähte das Futter und alle Taschen von Hand. Unterdessen malte sie sich aus, wie sie Charlie mit dem Mantel überraschen würde. In jeden Stich legte sie das Wissen, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Und nähte diese Liebe in den Mantel.
Als der Winter seinen Höhepunkt erreichte und das Tageslicht wie im Flug vorbeizuhuschen schien, war er fertig. Sie schickte sich an, ihm das Geschenk zu überreichen.
Sie erwischte ihn am Fuß der Treppe, als er entschlossenen Schrittes in Richtung Küche ging. Nach draußen in seinem fadenscheinigen grauen Mantel.
»Charlie?« Sie hatte nicht geahnt, dass ihre Stimme so sanft klingen konnte.
Er drehte sich um, neigte leicht den Kopf und schenkte ihr sein übliches freundliches Lächeln. »Guten Morgen, Beattie.«
Sie eilte zu ihm hin und breitete den Mantel aus.
Er nahm ihn, musterte ihn, und ein Ausdruck huschte über sein Gesicht, den sie nicht beschreiben konnte. Es mochte Traurigkeit sein. Doch sie wusste nicht, womit sie ihn traurig gemacht hatte.
»Gefällt er dir nicht?«
Sein Lächeln kehrte zurück. »Er ist prachtvoll, Beattie. Vielen Dank.« Er zog den grauen Mantel aus, hängte ihn übers Geländer und schlüpfte in den neuen.
Er passte wie angegossen. Sie war unglaublich stolz auf ihre Handarbeit, die sich an seine hochgewachsene Gestalt schmiegte, als hätte sie ihn mit einem Maßband statt mit ihren hungrigen Blicken vermessen.
»Verdammt prachtvoll«, murmelte er und breitete die Arme aus, um die Ärmel zu bewundern. »Das ist das Schönste, was ich je besessen habe.« Er schaute sie an. »Danke.«
»Nichts zu danken.« Sie wollte ihn berühren, das Material an seiner Schulter glatt streichen. Es juckte ihr in den Fingern. Doch das Schweigen zwischen ihnen war gewaltig. »Charlie, ich …«
»Beattie, du solltest mir keine hübschen Dinge nähen. Ich bin nicht … ich bin kein Mann, um den man Umstände macht.«
In ihren Phantasien hatte Charlie in diesem Moment etwas völlig anderes gesagt. Sie musste schlucken. Wollte er sie zurückweisen? Sie konnte die Ungewissheit nicht länger ertragen und nahm allen Mut zusammen. »Aber du bist es wert, dass man Umstände macht. Du bist einer der besten Menschen, die ich je kennengelernt habe.«
Nicht einer der besten. Der beste.
Wieder dieser traurige Ausdruck. Beatties Phantasie löste sich auf. Der Mantel sollte sie doch zusammenbringen, keine Kluft zwischen ihnen aufreißen.
»Ich bin nur dein Verwalter. Dein Angestellter.«
»Ohne dich gäbe es keine Farm.«
»So besonders bin ich nicht.« Er sah sie durchdringend an. »So besonders sollte ich nicht sein.«
Kein Zweifel, er wies sie zurück. Sie kam sich töricht vor. Er hatte sie durchschaut, als wäre sie aus Glas. Hatte die alberne Leidenschaft gesehen, die sie für ihn hegte, und wollte sie vertreiben, bevor es für sie beide peinlich wurde. Beattie kämpfte mit den Tränen und zwang sich zu lächeln. »Na gut, ich kann nicht den ganzen Tag reden. Ich kümmere mich jetzt um die Bücher.«
Er setzte den Hut auf, nickte und ging. Herrlich in seinem neuen Mantel, für immer unerreichbar.
Am 1 . August erhielt Beattie einen Anruf der Damenabteilung bei FitzGerald’s in Hobart. Sie hätten alle Röcke verkauft und wollten mehr. Außerdem lägen achtundvierzig Pfund für sie bereit.
Mehr Arbeit schien eine gute Möglichkeit zu sein, um die Gedanken an Charlie zu verdrängen.
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Zweiundzwanzig
1938
W eihnachten wäre nicht mehr das Gleiche ohne Mikhail.
Das Zimmer vibrierte vor Musik und Gelächter, Peter und sein Bruder Matt, die beiden Viehtreiber, sangen ein betrunkenes Abschiedslied. Lucy hüpfte neben dem Weihnachtsbaum auf und ab und fragte, was denn das »große Geschenk« sei. Und Mikhail stand neben dem leeren Kamin, den Arm um seine Verlobte gelegt, und grinste übers ganze Gesicht, wie er es in den letzten sechs Monaten getan hatte, seit er sie kannte. Mikhail heiratete Catherine, eine Witwe mit zwei erwachsenen Kindern, und sie würden nach Launceston ziehen, wo ihre alten Eltern wohnten. Beattie musste lernen, ohne ihn zurechtzukommen.
»Na los«, sagte sie und klappte den Deckel des Klaviers auf. »Rosella, spielst du uns ein Lied, damit die Männer mit ihrem schrecklichen Gesang aufhören?«
Rosella war ihre neue Nachbarin. Sie
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