Der Wind der Erinnerung
auf den Dachboden, über den man hinaus auf die Dachbrüstung gelangte. Von dort konnte sie auf die Schindeln klettern. Vor ihr saß Charlie, den Schlauch neben sich. Er hatte die Arme um die Knie gelegt, sein Gesicht war mit Ruß verschmiert.
»Du solltest doch nicht raufkommen.«
Sie wollte sich an der Regenrinne hochziehen, doch er stand auf und machte eine warnende Handbewegung. »Ich komme runter. Wir können das Feuer auch so im Blick behalten.«
Er rutschte vom Dach und stellte sich neben sie auf die Brüstung. Von hier aus konnten sie über die Felder und bis zu den Bäumen sehen, die orange vor dem dunklen Rauch erglühten.
»Werden wir verschont?«
»Sieht so aus. Außer der Wind dreht noch einmal.«
Sie blickten lange schweigend hinüber. Der Stall brannte und sank mit einem schweren Seufzer zu einem Haufen Asche und Glut zusammen. Allmählich wurde das Brüllen des Feuers in der Ferne leiser. Beattie bemerkte, dass sie noch immer die Fäuste geballt hatte, und öffnete sie langsam.
Charlie stand neben ihr, so nah, dass sie die Wärme seines Körpers spürte. Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu, und ihr wurde schwindlig, als fiele sie aus ihrer eigenen Haut.
Er bemerkte ihren Blick und drehte sich halb, als fürchtete er, ihr in die Augen zu sehen.
»Danke«, sagte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Das ist mein Job.«
»Zum zweiten Mal hast du etwas Kostbares für mich gerettet.«
Er antwortete nicht, sah ihr aber diesmal genau in die Augen. Adrenalin schoss durch ihren Körper.
»Charlie …«, begann sie.
Langes Schweigen. Ihr Magen zog sich zusammen. Ihr ganzer Körper sehnte sich danach, sich an ihn zu drücken. Sie warf einen flüchtigen Blick auf seine Lippen und wandte sich ab. Doch der Gedanke, diese Lippen zu berühren, ließ ihre Haut erglühen.
»Beattie«, sagte er so vernünftig und geduldig, dass es wie eine Warnung klang, »du solltest ins Bett gehen. Ich bleibe hier oben und passe auf.«
»Ich bleibe bei dir.«
»Auf gar keinen Fall.«
Am liebsten hätte sie vor Enttäuschung und Erschöpfung geweint.
»Es hat keinen Sinn, wenn wir morgen beide müde sind. Es gibt so viel zu tun. Du gehst schlafen. Ich lasse dich wissen, wenn der Wind sich wieder dreht. Du kannst mir vertrauen.«
»Das weiß ich doch«, sagte sie und meinte es auch so.
Vier Stunden später erwachte sie in einer trüben Dämmerung. Die Hügelflanke war nur noch eine schwarze, stinkende Masse. Beattie schaute lange aus dem Fenster und betrachtete entsetzt die rauchenden Leichen der Bäume. Bei Tageslicht erkannte sie, wie nah das Feuer der Farm gekommen war. Besorgt fragte sie sich, was aus ihren Nachbarn geworden sein mochte.
Sie blickte hinunter und sah Charlie vor dem Fenster sitzen. Seine Hunde waren zurückgekehrt und lagen erschöpft neben ihm.
Beattie zog den zerrissenen, rußgeschwärzten Morgenmantel an und eilte hinunter.
»Charlie?«
Er drehte sich zu ihr und sah so müde aus, dass es ihr selbst weh tat. Liebster Charlie.
»Hey, Beattie«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. »Das Feuer ist nach Osten gezogen. Hat ein ganz schönes Chaos angerichtet, aber wir haben nicht viel verloren. Nur die Ställe und die schöne Aussicht.«
Angst, Erschöpfung … viele unbenennbare Gefühle. Sie war so nahe daran gewesen, alles zu verlieren. Sie schluchzte. Er stand da, zuerst unbeholfen, streckte die Hand aus, zog sie wieder zurück.
Also ließ sie sich gegen ihn fallen, und er fing sie auf. Sie spürte seinen Körper fest und stark an ihrem. Seine Arme legten sich zaghaft um sie und streichelten ihren Rücken. »Schon gut, ist ja alles gut.«
Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Was er dort erblickte, musste ihm Angst gemacht haben, denn er wich zurück.
»Beattie, ich …«
Sie legte die Hand an seine Lippen. »Ich glaube, ich sterbe, wenn du mich nicht küsst.«
Der Augenblick dehnte sich ins Unendliche, ihr Körper wartete angespannt auf seine Reaktion. Dann nahm er ihre Hand von seinem Mund und zog sie wieder an sich. Mit einem sanften Stöhnen sank sie in seine Arme. Er strich ihr das Haar zurück und ließ seinen heißen Mund über ihre Kehle wandern, ihre Ohren und schließlich zu ihren Lippen. Die ganze Welt glitt davon, und sie lebte nur in diesem Augenblick, lebte nur für die brennende Leidenschaft zwischen ihnen. Seine Hände tasteten sich zu ihrem Morgenmantel und schoben ihn langsam von ihrer linken Schulter. Dann spürte sie seine Lippen auf der Haut:
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