Der Wind der Erinnerung
verlor den Boden unter den Füßen. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.
Charlie schloss sie in die Arme.
»Wo ist mein kleines Mädchen, Charlie?«, schluchzte sie. »Wo haben sie mein kleines Mädchen hingebracht?«
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Vierundzwanzig
B eattie erwachte im körnigen Licht der Morgendämmerung und fragte sich einen Moment lang, wo sie war. Dann fiel es ihr ein: die fadenscheinigen Laken, der Geruch nach abgestandenem Tabakrauch, der in Vorhängen und Teppichen hing … Sie war im einzigen Hotel in Hobart, in dem eine weiße Frau mit einem schwarzen Mann übernachten konnte. Und sie war immer noch im Alptraum von Lucys Verschwinden gefangen.
Sie rollte sich herum und sah, dass Charlie schon wach war. Er betrachtete sie mit seinen sanften Augen.
»Wie lange bist du schon wach?«
»Etwa eine Stunde. Ich wollte da sein, wenn du aufwachst. Wenn es dir wieder einfällt.«
Sie lächelte schwach. Der Vortag war ein verschwommenes Durcheinander, sie waren überall herumgelaufen, hatten die Nachbarn gefragt, den Pastor der Kirche, die Henry und Molly besuchten, Henrys Mitarbeiter und Mollys Freundin, die bei FitzGerald’s arbeitete. Sie und Charlie waren durch ganz Hobart gefahren, hatten Fragen gestellt und keine Antworten erhalten. Die meisten Leute wussten nichts; Pastor Gibbins hatte lediglich erklärt, sie seien auf einmal nicht mehr in die Kirche gekommen. Manche Leute wussten ein bisschen, aber immer nur das Gleiche. Sie hatten davon gesprochen, nach Norden zu gehen. Niemandem war bekannt, wie weit oder wohin. Doch sie waren sehr überrascht, dass Beattie Lucys Mutter war. Mehr noch, einige schienen ihr nicht zu glauben.
Schließlich versuchte Charlie, sie zur Heimkehr zu bewegen, doch sie weigerte sich, die Stadt ohne ihre Tochter zu verlassen. Das war natürlich dumm. Ihre Tochter war vermutlich gar nicht mehr in Hobart. Als der kalte Abend hereinbrach, hatten sie nach einem Hotel gesucht und waren erschöpft eingeschlafen.
Nun stand sie vor der Entscheidung, was sie als Nächstes tun sollten.
»Am besten fahren wir nach Hause«, sagte Charlie, stieg aus dem Bett und zog seine Hose an. »Wir haben hier getan, was wir konnten.«
»Es ist alles meine Schuld.« Sie legte sich auf den Rücken, den Arm über den Augen. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. »Hätte ich nur in Ruhe mit ihnen über das Sorgerecht gesprochen, statt direkt vor Gericht zu gehen …«
Charlie streifte sein Hemd über, setzte sich aufs Bett und knöpfte es energisch zu. »Du hast selbst gesagt, dass Henry sich einen Anwalt nehmen wollte.«
»Ich will nur wissen, ob es ihr gutgeht.«
»Natürlich geht es ihr gut. Sie vergöttern Lucy, sie werden ihr nicht weh tun.«
Das tröstete sie ein wenig, aber sie konnte Charlie dennoch nicht erklären, wie verloren sie sich vorkam. Es war schrecklich, nicht zu wissen, wo ihre Tochter war. Nicht zu wissen, ob sie sie jemals wieder im Arm halten würde. Sie wollte nicht weinen, konnte aber nicht anders.
»Na, komm schon«, sagte Charlie mit weicher Stimme und wischte ihr mit dem gekrümmten Finger eine Träne von der Wange, »wenn der Anwalt die Sache eingeleitet hat, kann er sie vielleicht auch stoppen. Lass uns nach Hause fahren, dann kannst du unterwegs bei Leo Sampson vorbeischauen.«
Beattie nickte und riss sich zusammen. »Du hast recht. Sie können nicht einfach verschwunden sein. Leo wird mir helfen, sie zu finden.«
Für Beattie war es eine Qual, die Strecke zurückzufahren, die sie gestern voller Hoffnung genommen hatten. Sie lehnte den Kopf ans Fenster und sah die Landschaft vorbeigleiten, sah, wie sie sich Meile um Meile von Lucy entfernte. Als Charlie vor Leos Kanzlei anhielt, hatte sich die Angst in ihr festgesetzt, sie könnte ihre Tochter nie wiedersehen.
Wie üblich reckten die Leute auf der Straße den Hals, als sie auf der Beifahrerseite ausstieg, und wollten sehen, wer am Steuer saß, doch Charlie behielt den Hut auf und das Fenster geschlossen.
»Komm mit herein«, bat sie und lehnte sich zur Tür hinein.
»Nein, Beattie. Es würde dir nur schaden, wenn ich vor den Augen der Leute neben dir einherstolziere.« Er hielt das Lenkrad fest umklammert.
Sie schloss die Tür und sammelte sich. Trotz der bitteren Kälte fühlte sich ihr Gesicht heiß an, und sie erkannte, dass sie immer noch nicht gesund war. Ihr linkes Ohr tat weh und klingelte leise.
Tief durchatmen.
Dann stieß sie die Tür auf.
Leo heftete gerade Akten ab; seine Pfeife wartete auf dem
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