Der Wind der Erinnerung
Schreibtisch. Er drehte sich um, sah sie, lächelte … dann wurde sein Lächeln zu einem Stirnrunzeln.
»Was ist passiert?«
»Sie haben sie mitgenommen.« Sie brach wieder in Schluchzen aus.
Mit einem großzügigen Brandy in der Hand erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Leo machte sich Notizen und nickte mitfühlend.
»Ich werde mich sofort mit ihrem Anwalt in Verbindung setzen«, sagte er. »Möglicherweise weiß er, wo sie sich aufhalten. Beattie, Sie müssen nach Hause fahren und sich ausruhen. Sie sehen gar nicht gut aus.«
»Ich muss wissen, wo Lucy ist.«
»Ich glaube, Sie müssen akzeptieren, dass es eine Weile dauern kann, bevor wir das erfahren. Ruhen Sie sich aus. Gibt es … jemanden auf der Farm, der sich um Sie kümmern kann?«, fragte er mit ruhiger Stimme.
»Charlie ist da.«
Er lächelte traurig. »Da bin ich froh.« Er tippte auf die Notizen, die vor ihm lagen. »Ich rufe Sie an, sowie ich etwas höre.«
In der eisigen Luft draußen musste sie husten. Sie blieb stehen und rang nach Luft. Dann merkte sie nur noch, wie sie nach vorne kippte.
Der kalte, grasbewachsene Weg war hart, doch die Hände, die sich um ihre Taille legten und sie hochzogen, waren sanft.
»Beattie? Was ist los?«
»Charlie, mir geht es nicht gut.«
»Hände weg von ihr, du schwarzer Bastard.«
Beattie sah Frank Harrow mit den zusammengekniffenen Augen, der nur wenige Meter entfernt stand.
»Ich helfe ihr doch nur.«
»Du solltest eine weiße Frau nicht so anfassen.« Er stieß Charlie beiseite und ergriff Beattie am Ellbogen.
Sie stand noch ganz unter dem Eindruck ihres Verlustes und konnte seine grobe Art nicht ertragen. »Loslassen!«, kreischte sie und stieß Frank gewaltsam weg. »Wie können Sie es wagen, so mit Charlie zu sprechen?«
Die Leute wurden von ihrer lauten Stimme angezogen. Zwei kamen vom Kolonialwarenladen herüber, einer kam aus dem Postamt, dazu drei Nachbarn von Leo.
»So lassen Sie sich von ihm anfassen? Als wenn Sie ihm gehörten?«, knurrte Frank.
»Kommen Sie, Missus«, murmelte Charlie. »Wir fahren zurück auf die Farm.«
Missus.
Den Begriff empfand sie als Beleidigung, als Symbol einer Zeit, in der sie einander noch nicht geliebt hatten. Sie würde nicht in jene Zeit zurückkehren, sie ließ sich nicht von Frank und seiner bigotten Gefolgschaft dazu zwingen.
»Ich gehöre ihm«, erwiderte sie kühn. »Ihm gehört mein Herz. Und seins gehört mir.«
Leises Murren. Charlie saß schon im Auto, schlug die Tür zu und ließ den Motor an.
»Wagen Sie es nicht, ein Wort gegen ihn zu sagen. Er ist ein besserer Mensch als Sie alle.« Sie schaute sich um, ihre Stimme wurde lauter. »Er ist ein besserer Mensch als Sie alle.«
Sie stützte sich am Wagen ab, tastete nach dem Türgriff und ließ sich dankbar auf den Sitz fallen.
»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Charlie eisig.
»Bist du etwa wütend auf mich?«
Er fuhr los, ohne zu antworten.
»Sag doch etwas.«
»Du möchtest sicher nicht hören, was ich zu sagen habe«, erwiderte er. »Du legst dich zu Hause ins Bett, und ich hole den Arzt aus Bothwell. Für Lucy können wir im Augenblick nichts tun, aber ich werde verdammt noch mal dafür sorgen, dass sie noch eine Mutter hat, zu der sie zurückkehren kann.«
Beattie schaute wieder aus dem Fenster, heiße Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Beattie war neun Tage lang krank. Sie musste die ganze Zeit liegen, die Entzündung im Ohr hatte ein hohes Fieber hervorgerufen. Sie schlief viel und träumte lebhaft von Lucy und Henry. Charlie kochte ihr Suppe, die sie nicht aß, und bezog ihr Bett, wenn sie es durchgeschwitzt hatte. Außerdem sorgte er dafür, dass der Arzt kam.
Am neunten Tag ging es ihr besser, sie konnte sich aufsetzen und zum ersten Mal wieder richtig essen. Charlie saß am Fußende und beobachtete sie. Er war still, war die ganze Zeit über still gewesen. Sie nahm an, er sei noch wütend wegen dem, was sie zu Frank Harrow gesagt hatte. Doch warum hätte sie es nicht sagen sollen? Die Meinung der anderen war ihr egal.
Sie brach ein Stück Brot ab und tunkte es in die Suppe. »Ich habe darüber nachgedacht, dass Henry seiner Nachbarin gesagt hat, er wolle nach Norden ziehen. Ein alter Freund von ihm, Billy Wilder, ist nach Launceston gegangen. Vielleicht sollte ich mich bei ihm melden.«
Charlies Mundwinkel zuckte. »Beattie …«
»Mit Norden könnte er natürlich auch das Festland gemeint haben, aber es passt nicht zu Henry, irgendwohin zu gehen,
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