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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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wo er keinen kennt und keine Arbeit hat. Im Grunde ist er ein Feigling, also …«
    »Beattie«, sagte er nun heftiger. »Vor zwei Tagen hat Leo Sampson angerufen.«
    Sie erstarrte, das Brot noch in der Hand. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
    »Ich wollte warten, bis es dir bessergeht.«
    Ihr Magen zog sich vor Angst zusammen. »Du hast schlechte Nachrichten, was?«
    Er spreizte die Finger. »Leo hat mit Henrys Anwalt gesprochen. Er, Molly und Lucy sind nach Schottland gegangen.«
    Schottland.
Die schiere Entfernung lähmte sie. Lucy war in Schottland … oder noch auf dem Weg dorthin. Ihr Bauch zuckte zusammen, als hätte man die Nabelschnur niemals durchtrennt, als würde die Trennung ihr die Eingeweide herausreißen. Sie legte die Hände auf den Bauch.
    »Es tut mir leid, Beattie.«
    »Ich muss sie finden«, erwiderte sie, schob die Suppe beiseite und warf die Decke zurück.
    Charlie hielt sie fest und strich die Decke wieder glatt. »Nicht so schnell. Das musst du dir gut überlegen.«
    »Meine Tochter ist am anderen Ende der Welt. Ich muss sie suchen.« Ihre Stimme klang angespannt und schrill. Das hatte sie nicht beabsichtigt.
    »Ganz ruhig, hör mir zu. Henry hat gesagt, er wolle dir die Adresse schicken, sobald sie sich irgendwo niedergelassen haben. Du musst Geduld haben.«
    »Warum sollte ich das?«
    »Wenn du Hals über Kopf nach Schottland aufbrichst, wirst du sie nicht finden.«
    »Er muss irgendwo in Glasgow sein. Ich könnte zu seiner Mutter gehen …« Noch während sie das sagte, begriff sie, wie verzweifelt und töricht es klang. Niemand konnte sicher sagen, dass Henry sich an seine Mutter wenden würde, möglicherweise würde sie in Glasgow stehen und keinen einzigen Anhaltspunkt haben. »Aber es ist nicht gerecht«, schluchzte sie. »Er darf sie nicht einfach mitnehmen. Er kann nicht die Regeln diktieren. Sie wird mich vermissen. Sie wird sich fragen, was los ist. Sie wird durcheinander sein.«
    »Lucy ist fast zehn. Sie wird es verstehen.«
    »Aber was haben sie ihr über mich erzählt?«
    Charlie schwieg.
    »Charlie?« Sie schaute ihn prüfend an. Er blickte düster drein. »Bist du wütend auf mich?«
    »Ich wusste, dass nichts Gutes dabei herauskommt, wenn wir zusammen sind.«
    »Es ist nicht unsere Schuld.« Oder hatte er recht? Beattie ließ sich in die Kissen fallen. Charlie legte sich neben sie, die Wange auf ihrem Kopfkissen.
    »Es tut mir leid, Beattie.« Er vergrub die Hand in ihrem Haar.
    »Ich spüre das Gewicht aller Städte und Ozeane, die zwischen uns liegen.« Sie berührte ihre Brust. »Es drückt auf mein Herz.«
     
    Zuerst dachte Beattie, die Krankheit habe sie noch im Griff. Jeden Tag wachte sie mit bleiernen Gliedmaßen und müdem Kopf auf. Irgendwann aber begriff sie, dass sie nicht körperlich krank, sondern krank im Herzen war.
    Das Schlimme war, dass das Leben normal weiterging. Sie war an die Trennung von ihrer Tochter gewöhnt, also war es kaum anders als sonst. Sie trauerte nicht im leeren Zimmer, vermisste nicht das kindliche Gelächter. In vieler Hinsicht schien das Leben genau wie zuvor. Die Wochen vergingen, aber das Gefühl der Schwere blieb. Charlie war ihr einziger Trost, doch er musste die Schafschur vorbereiten. Und sie selbst musste Kleider entwerfen und nähen, dabei konnte sie kaum den Kopf heben.
    Ihre Phantasie gaukelte ihr schreckliche Dinge vor. Würde sie Lucy nun, da sie in Schottland war, jemals zurückbekommen? Ihre Gedanken kreisten unablässig um dieses Problem. Was hatten Molly und Henry ihr über sie erzählt? Wie konnte sie Lucy von dem Vater wegholen, den sie so vergötterte? Wie konnte sie sich so lange von Charlie trennen, um Lucy zu holen? Was würden die Leute über eine weiße Frau und einen schwarzen Mann denken, die gemeinsam reisten? Was würde aus der Farm, während sie beide weg waren?
    Allmählich begriff sie, dass sie sich in einer ausweglosen Lage befand. Der Zorn kehrte sich nach innen, sie gab sich selbst die Schuld. Hätte sie nicht vor Gericht das Sorgerecht verlangt, wären sie nicht geflohen …
    Dann schließlich traf ein Brief ein.
    Charlie brachte ihn zum Mittagessen mit. Es war einer der ersten Frühlingstage, und er hatte mit den Hunden die Schafe zusammengetrieben. Peter und Matt würden erst in zwei Wochen eintreffen, eine Woche danach die Scherer. Da Beattie so sehr mit sich selbst beschäftigt war, musste Charlie sich um alles kümmern.
    Er überreichte ihr den Brief feierlich in der Küche, wo sie

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