Der Wind der Erinnerung
musste ich mir eingestehen, dass ich ihr Lernbedürfnis unterschätzt hatte und mehr noch, wie gut sie die Bewegungen nachahmte. Ich erkannte echte Anmut in ihr. Nach etwa einer halben Stunde ließ ihre Leistung jedoch nach.
»Ich lerne später weiter«, sagte sie und hielt abrupt in der Bewegung inne.
Ich brauchte eine Sekunde, um mich zu bremsen, fast hätte ich gesagt: »Du wirst es nie lernen, wenn du so schnell aufgibst.« Immerhin war sie keine Ballerina, sondern ein Mädchen mit Down-Syndrom. Und sie hatte es hervorragend gemacht.
»Sehr gut«, sagte ich. »Ein toller Anfang. Du wirst der schönste Tautropfen, den es je gegeben hat.«
Sie schüttelte mir feierlich die Hand. »Kann ich jetzt wieder zu den anderen?«
Den Rest der Probe verfolgte ich von den Rängen. Eigentlich betrachtete ich eher Patricks Rücken als die tanzenden Kinder. Er hatte einen sehr geraden Rücken und schöne, eckige Schultern. Ein bisschen mager, aber nicht knochig. Josh hatte im Studio trainiert und besaß die Muskeln eines Hafenarbeiters, obwohl er den ganzen Tag im Büro verbrachte und nichts Schwereres als seinen BlackBerry stemmte. Zum ersten Mal fand ich das komisch.
Als die Probe zu Ende war, mussten Patrick und ich noch zwanzig Minuten mit Mina warten, weil ihr Vater sich verspätet hatte. Wir übten die Schritte noch einmal im Gras, aber es fiel ihr schwer, sich ohne die Musik zu konzentrieren. Schließlich fuhr der Lexus vor. Er hupte, und Mina ging nach einem schnellen »Wiedersehen« zum Parkplatz.
»Und er schaut sich die Proben nie an?«, fragte ich Patrick leise.
»Nie.«
»Auftritte?«
»Nie.«
Die Tür schlug zu, und der Wagen fuhr davon.
»Arschloch«, sagte ich.
Patrick seufzte. »Wir wissen nicht, was in anderen Familien vorgeht. Wir sollten nicht einfach urteilen.«
»Hat sie eine Mutter? Geschwister?«
»Ihre Mutter ist gestorben, als sie noch klein war. Und sie hat keine Geschwister.«
Ich überlegte eine Weile. Dann fragte Patrick: »Haben Sie Hunger?«
»Nein«, sagte ich, bevor mir die Konsequenz seiner Frage klarwurde: Gemeinsamer Hunger bedeutete eine Verabredung zum Essen. »Ich meine, ja. Ein bisschen. Sollen wir irgendwo hingehen?«
»Wenn Sie möchten.«
»Klar. Warum nicht?« Ich fragte mich, ob ich cool und lässig klang.
Wir landeten in einem Café in Sandy Bay. Der Kaffee war eine Enttäuschung, aber es war nett, Patrick zur Abwechslung von vorn zu betrachten. Ich konnte kaum glauben, dass ich ihn einmal eher interessant als gutaussehend gefunden hatte. Sein Gesicht war sogar sehr anziehend. Die Augen waren von einem ungewöhnlichen Grün und die äußeren Augenwinkel nach oben gezogen, was ein bisschen exotisch wirkte.
»Wie war es denn mit Mina?«
»Sie hat es toll gemacht. Sehr konzentriert. Das hatte ich ihr gar nicht zugetraut.«
»Die Kinder sind alle unterschiedlich. Sie haben ganz verschiedene Fähigkeiten. Mich überrascht gar nichts mehr.« Er lächelte. »Der Tanz gefällt ihr also?«
Ich nickte. »Richtiges Ballett.«
»Was Sie mir gezeigt haben, sah toll aus.«
Ich zuckte zusammen. »Es war stark vereinfacht. Der Tautropfen war meine erste Rolle. In Wirklichkeit ist sie ziemlich anspruchsvoll.« Ich merkte, dass ich prahlte, konnte aber nicht anders. Er sollte begreifen, dass ich eine wirklich große Tänzerin gewesen war. Doch mein verzweifelter Versuch, ihn zu beeindrucken, machte mich traurig, und ich verstummte.
Er gab mir einen Augenblick Zeit, bevor er sagte: »Emma, ich habe Sie tanzen sehen.«
Ich schaute ihn an. »Ehrlich?«
»Monica hat eine DVD . Sie waren ihre Heldin, als sie ein Teenager war. Alle wussten, dass Ihre Großmutter mal in der Stadt gelebt hatte, und im Zeitungsladen gab es einige dieser DVDs. Ich glaube, ich habe Ihre Giselle an die hundertmal gesehen.«
Ich strahlte vor Stolz. »Ich hatte keine Ahnung, dass Monica ein Fan von mir war.«
»Ich musste ihr schwören, es Ihnen nicht zu sagen, damit Sie sie nicht für eine Idiotin halten.«
Ich musste lachen. »Sie wollte auch tanzen?«
»Als Kind hat sie es eine Zeitlang versucht, aber es lag ihr wohl nicht. Sie ist zu groß und schlaksig, genau wie ich.« Er rührte in seinem Kaffee, ohne mich anzusehen. »Sie tanzen wunderschön.«
»Ich habe getanzt. Vergangenheit.« Ich dachte an meinen veränderten Körper. Meine Muskeln wurden allmählich weicher, eine sanfte Fettschicht umhüllte sie.
»Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht traurig machen.«
Dann kam das Mittagessen, und
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