Der Wind der Erinnerung
flatterten Möwen. Der saure Geruch des Hafens stieg aus dem muschelübersäten Holz auf. An der Seite gab es einen Schuppen mit einem winzigen Büro. Dort sollte sie den Schiffsagenten treffen und die Überfahrt bezahlen. Beim Gedanken an das Schiff, die lange Reise und die weite Entfernung zwischen ihr und Charlie wurde ihr ganz schwindlig. Es war, als würde er schon jetzt in weiter Ferne verschwinden. Und auch Lucy war so weit weg. Beide in entgegengesetzten Richtungen und sie allein in der Mitte der Welt.
Beattie öffnete die Tür des Büros. Es war leer. Sie sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Eine Wolke zog vor die Sonne. An der Wand standen zwei hölzerne Stühle. Sie setzte sich, nahm Notizblock und Stift und begann einen Brief an Charlie, an dem sie sich in den kommenden Wochen festhalten konnte. Wie im Wahn vertraute sie ihre Gefühle dem Papier an. Sie würden heiraten, egal, was die anderen dachten, denn ihre Liebe war größer als deren engstirnige Bedenken.
»Miss Blaxland?«
Sie blickte hoch und steckte den Brief rasch in das Notizbuch. »Ja?«
Ein Mann stand in der Tür. Von den dunklen Augenbrauen abgesehen wirkte sein Gesicht sehr zierlich. »Ich bin Alan Jephson. Wir haben miteinander telefoniert.«
Sie stand auf und gab ihm die Hand. »Wann geht es los?« Sie bemühte sich, tapfer zu klingen. »Ich möchte gern in meine Kabine.«
Er sah ihr nicht in die Augen. »Es tut mir leid, Miss, aber wir können Sie nun doch nicht mit nach London nehmen. Wir sind heute Morgen alle ein bisschen durcheinander und …«
»Sie können mich nicht mitnehmen? Aber ich habe doch gebucht.«
»Seither haben sich die Dinge geändert. Heute Morgen haben wir erfahren, dass die Deutschen vor der schottischen Küste die
Athenia,
ein unbewaffnetes britisches Linienschiff, torpediert haben. Mit über tausend Zivilisten an Bord.« Er presste die Lippen zusammen, und Beattie fragte sich, ob er Angst oder Traurigkeit empfand. »Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Wir müssen auf weitere Anweisungen warten.«
»Aber … Sie müssen fahren. Ich muss nach Schottland. Wann werden Sie es wissen? Und wer entscheidet darüber?«
Er wirkte schockiert. »Miss, verstehen Sie denn nicht? Wir fahren ins Kriegsgebiet. Wir wissen nicht, wozu die Deutschen fähig sind. Sie würden Ihr Leben aufs Spiel setzen. Hundert Menschen sind gestorben, darunter ein kleines Mädchen.«
Ein kleines Mädchen. Wie Lucy. Sie begann zu weinen.
»Na, na«, er reichte ihr ein großes weißes Taschentuch. »Dieser dumme Krieg hat uns alle durcheinandergebracht. Warten Sie nur, bis Weihnachten ist er vorbei. Ein Sturm im Wasserglas. Schieben Sie Ihre Reise bis dahin auf.«
Beattie bedankte sich für das Taschentuch und verließ das Büro. Dann trug sie ihre Koffer zurück zur Straße. Sie blickte sich um. Hinter der Stadt erhob sich der Mount Wellington, gestreift von Sonne und Schatten. Was sollte sie jetzt tun?
Beattie schleppte ihren Koffer in sämtliche Schifffahrtsbüros, die sie kannte, sogar in das, in dem Henry früher gearbeitet hatte. Und überall hörte sie dieselbe Geschichte: abwarten.
Doch sie wollte nicht abwarten. Sie wollte handeln, jetzt, sofort, solange sie noch mutig und zornig genug war. Ihre Enttäuschung wurde immer größer, bis sie die Mitarbeiter, die nur in gefährlichen Zeiten das Leben ihrer Mannschaften schützen wollten, wütend ankeifte.
Nachdem sie die letzte Absage erhalten hatte, war es zu spät, um mit dem Bus nach Lewinford zurückzukehren. Außerdem könnte sie vielleicht jemanden bezahlen, der sie am Morgen bis vor die Haustür brachte. Sie versuchte, Charlie anzurufen, doch er meldete sich nicht. Vermutlich trieb er immer noch die Schafe auf den Weiden zusammen, um sie auf die Schur vorzubereiten. Beim Gedanken an Charlie musste sie lächeln. Dann schlief sie die ganze Nacht tief und fest.
Charlie pfiff die Hunde herbei, gab Birch Wasser und Futter und kehrte ins Haus zurück.
Es war ein seltsames Gefühl, allein im leeren Haus zu sein. Obwohl Beattie klein von Gestalt war, erfüllte sie alles mit ihrer Wärme. Ohne sie war es irgendwie kalt im Haus.
Die Dämmerung war in Dunkelheit übergegangen, und er holte gerade die Reste aus dem Kühlschrank, als es klopfte.
Neugierig ging er zur Tür.
Sechs Gesichter starrten ihn an, keines davon freundlich. Er erkannte Frank Harrow, seine Frau Tilly, zwei alte Käuze aus dem Pub und zwei weitere Männer, deren Gesichter ihm nur vage bekannt
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