Der Wind der Erinnerung
eingeladen zu haben. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt und das Buch sofort gelesen, statt mich in Smalltalk zu versuchen. Das konnte ich ohnehin nicht sonderlich gut. Dennoch unterhielten wir uns über das Haus, meine Pläne, das Wetter, und dann machte sie sich wieder auf den Weg. Ich brachte Penelope zum Auto, das Buch unter dem Arm. Dann suchte ich mir ein weiches Fleckchen Gras zwischen den Pappeln. Ein frischer Wind war aufgekommen, der die Wolken über den Himmel trieb. Die ganze Welt schien in Bewegung, aber ich saß still da und las.
Das »schottische Mädchen« war eines Abends völlig durchnässt und mit einem kleinen rothaarigen Kind im Schlepptau in der Stadt aufgetaucht und hatte um Hilfe gebeten. Das Buch verriet nicht, ob es tatsächlich Beatties Kind war, doch zwei Seiten später wollte der Vater sie abholen, also war es vermutlich nicht ihre Tochter. Oder doch. Ich konnte mich nicht entscheiden. Das schottische Mädchen gab sich mit Alkohol, Drogen, illegalem Glücksspiel und pozentiellen Orgien ab – das Wort wurde nie benutzt, aber man bezog sich auf »das schlimmste nur denkbare Zusammensein zwischen lüsternen Erwachsenen« –, bevor sie den Besitzer einer örtlichen Farm dazu verführte, sie ihr billig zu verkaufen.
Nun, darin irrte die Autorin jedenfalls. Beattie hatte ihre Farm nicht billig, sondern umsonst bekommen.
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Der Stil war so schwülstig und scheinheilig, dass die Ereignisse unglaubwürdig schienen. Ich fragte mich, ob der Mann, der Beattie die Farm geschenkt hatte, der Liebhaber aus ihrem Brief war, doch die Daten passten nicht zueinander. Raphael Blanchard war 1934 nach England zurückgekehrt, während der erotische Brief vermutlich aus dem Jahre 1939 stammte. Hatte Grandma mehr als einen Liebhaber gehabt? War das kleine Mädchen auf dem Foto ihre Tochter? Wer war der Mann, der das kleine rothaarige Mädchen abholen wollte? Genau wie Mum hätte ich gern geglaubt, dass Großvater ihre erste Liebe gewesen war. Ihre einzige Liebe.
Doch man sollte nie vergessen, dass alte Menschen auch einmal jung gewesen sind.
Ich las dieselben sieben Seiten wieder und wieder und suchte zwischen den Zeilen und Buchstaben nach Informationen, die es einfach nicht gab. Allmählich wurde mir klar, dass ich Grandmas Geheimnis vielleicht nie lüften würde. Das ärgerte mich. Ich hätte öfter herkommen sollen, als sie noch lebte. Ich hätte sie nicht als selbstverständlich betrachten dürfen. Aber ich war ja in London und kümmerte mich um meine wahnsinnig wichtige Karriere, und selbst als sie gesagt hatte, sie wolle mir etwas Wichtiges mitteilen, hatte ich nicht zugehört.
Von nun an würde ich es besser machen.
Am Mittwoch kam Patrick nach der Schule, um Monica abzuholen. Normalerweise ging sie zu Fuß, doch hinterm Horizont braute sich ein Gewitter zusammen. Ich freute mich, ihn zu sehen, zeigte es aber nicht.
»Wow, der Garten sieht ja toll aus.«
»Das ist Therapie.« Ich zeigte ihm den Berg von Ästen und Unkraut.
»Dafür brauchen Sie einen Anhänger. Soll ich mich umhören?«
»Schon gut. Ich muss lernen, mich selbst darum zu kümmern. Helfer suchen, Probleme lösen.« Ich bemerkte, dass er seine Sonnenbrille nicht abgenommen hatte. »Gut, dass Sie gekommen sind. Ich wollte nämlich mit Ihnen über Mina sprechen.«
»Was ist denn?«
»Zwei Wochen ohne Probe. Sie könnte alles vergessen, die Zeit läuft uns davon. Meinen Sie, ihr Vater würde sie am Wochenende herbringen? Sie könnte auch das ganze Wochenende über hierbleiben, wenn sie möchte …« Dann wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wie man sich um jemanden wie Mina kümmerte. »Falls die Idee nicht zu verrückt ist.«
Patrick lächelte und schob die Sonnenbrille auf den Kopf, so dass sein Haar lustig in die Höhe stand. »Das ist eine wunderbare Idee. Aber ihr Dad wird nicht so weit fahren. Ich könnte ihn vielleicht überreden, dass ich sie abholen und wieder nach Hause bringen kann.«
»Das ist aber viel Aufwand für Sie.«
»Das macht nichts. Ich bin daran gewöhnt, die Strecke zu fahren.« Er setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Kann ich Sie deswegen anrufen? Ich sehe, was sich machen lässt.«
»Ja, melden Sie sich auf jeden Fall.«
Ich fand großen Gefallen an der Gartenarbeit, was mich selbst überraschte, weil ich mich nie gern draußen aufgehalten hatte. Das lange Beet, das von der Einfahrt bis zur Waschküche verlief, war mein neuestes Projekt.
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