Der Wind der Erinnerung
Freundinnen. Zwei waren mit dem Ballett im Ausland. Eine alte Freundin aus Australien lebte jetzt in … wo doch gleich? Zum ersten Mal seit langer Zeit sehnte ich mich nach meiner Mum. Sehr sogar.
Ich griff wieder zum Telefon und wählte, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Am anderen Ende, Tausende Kilometer entfernt, klingelte es. Und klingelte. Mir wurde klar, dass ich furchtbar enttäuscht wäre, wenn sich niemand meldete. Und dass ich unbedingt die Stimme meiner Mutter hören wollte, obwohl sie mich wieder drängen würde, nach Hause zu kommen.
Als ich gerade aufgeben wollte, meldete sie sich.
»Hallo?«, fragte sie atemlos.
»Mum?« Meine Stimme versagte schon.
»Oh, Em, was ist denn los? Du hörst dich …«
»Josh hat mich verlassen.« Tiefe Schluchzer quollen aus meiner Kehle, die ersten, die ich mir gestattete, seit Josh mich im Restaurant sitzengelassen hatte. »Er ist jetzt mit seiner Assistentin zusammen.«
»Es tut mir so leid«, sagte Mum. Während ich weinte, drangen mir ihre tröstenden Worte ins Ohr. Zum ersten Mal seit Jahren wünschte ich mir tatsächlich, ich wäre daheim in Sydney, damit ich meine Wange an ihren kühlen Hals legen und mich wie ein Kind trösten lassen konnte. Unsere Beziehung war angespannt, zwei Persönlichkeiten, die einfach nicht miteinander zurechtkamen. Aber sie war trotz allem meine Mutter, der Mensch, der mir Pflaster aufs zerschrammte Knie geklebt und mich zum Ballettunterricht gefahren hatte.
Endlich hatte ich meine Tränen unter Kontrolle. »Mein Gott, Mum, gerade eben habe ich noch gedacht, dass ich ein perfektes Leben führe, und im nächsten Augenblick fällt alles auseinander.«
»Du könntest nach Hause kommen.«
Ich verspürte den üblichen leisen Ärger. »Nein.«
»Nur zu Besuch. Du bist seit dem Tod deiner Großmutter nicht mehr hier gewesen.«
»Ich kann nicht. Ich probe gerade für ein Stück.«
»Danach.«
»Dann kommt das nächste Stück.«
Ein Seufzen. »Emma, du bist fast zweiunddreißig. Du kannst nicht ewig tanzen.«
Doch, das konnte ich, genau darum ging es ja. Mein Körper war noch immer in Hochform. Wenn nicht für immer, dann doch hoffentlich noch zehn Jahre. Vielleicht auch mehr. Ich hatte Aufnahmen von Maja Plissezkaja gesehen, die mit dreiundsechzig noch spitze getanzt hatte. Seit meiner Kindheit hatte ich nichts anderes gewollt als tanzen; aufzuhören war undenkbar. Ich wusste nicht, wie man aufhört.
»Mum«, sagte ich, »ich verspreche dir, ich werde nach Hause kommen, wenn ich mit dem Tanzen aufhöre. Im Augenblick aber ist es mein Leben.« In Wahrheit war es alles, was mir geblieben war.
Den Ausdruck »gebrochenes Herz« hatte ich wohl schon hundertmal gehört. Jetzt aber verstand ich mit jedem Muskel und Nerv meines Körpers, was es tatsächlich bedeutete. Mein Herz, dieses lebenswichtige Organ, das Blut durch meinen Körper pumpte und Liebe und Sehnsucht durch meine Adern, tat immer weh. Morgens erwachte ich mit dem Schmerz und ging abends mit ihm schlafen. Wenn ich mich für die Arbeit fertig machte, weinte ich am Waschbecken in meine Hände. Ich konnte nicht klar denken und kannte mich selbst nicht mehr.
Diese furchtbaren Gefühle konnte ich nur verdrängen, solange ich mich bewegte. Jeden Abend nach der Probe blieb ich noch im Ballettsaal und tanzte und tanzte und tanzte. Um sechs Uhr gab Adelaide auf und fuhr zu ihrer Familie nach Clapham. Ich genoss den schimmernden, leeren Raum mit den weißen Lampen und den hohen Spiegeln. Ich hatte allen Platz der Welt, um meinen Zorn und Schmerz auszudrücken. Je schlimmer meine Füße schmerzten, desto näher war ich daran, über ihn hinwegzukommen. Ich tanzte wie eine Verrückte, ich tanzte, als könnte mich nur das am Leben erhalten. Was es in gewisser Weise auch tat.
Thomas, der Hausmeister, polterte durch die Flure. Ich hörte den Staubsauger und das Wasser in den Waschräumen. Eines Abends kam er herein und putzte die Spiegel, wobei er sich von einer Seite des Raums zur anderen vorarbeitete. Er sah mich absichtlich nicht an, während ich meinen Körper quälte. Am zweiten Freitagnachmittag konnte Adelaide sich nicht länger beherrschen.
»Du machst das jetzt seit zwei Wochen. Und du
weißt,
dass es dir schadet.«
»Üben kann nie schaden.«
»Du kannst deinen Körper auch zu sehr strapazieren. Wenn Brian wüsste …«
»Wag nicht, es ihm zu sagen!« Brian Lidke war der künstlerische Leiter. Als er mich das letzte Mal besetzte, hatte er demonstrativ
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