Der Wind der Erinnerung
nach meinem Alter gefragt. »Ich muss das machen, Adelaide. Ich habe viel zu viel Zeit mit Josh verbracht, Proben versäumt, bin nicht mehr in Form.«
»Du hast keine einzige Probe versäumt, Em. Ich verwalte deinen Terminkalender und muss es wissen.«
»Ich hätte aber die Zusatzproben besuchen können.«
Sie schnaubte zynisch. »Geh nach Hause, Herrgott noch mal, um deiner selbst willen.«
Nach Hause. In die leere Wohnung, die ich mir nicht mehr lange leisten konnte. »Noch eine Stunde.«
Adelaide hängte sich die Tasche über die Schulter und stapfte davon. Ich verdrängte mein schlechtes Gewissen und ging zur Stange. Meine Waden taten weh.
Und hoch.
An diesem Abend arbeitete ich besonders wütend an mir. Zuerst bemerkte ich nicht, dass der Staubsauger verstummte. Erst als ich fertig war und einige Abwärmübungen absolvierte, wurde mir klar, dass ich ganz allein im Theater war. Ich ging zur Tür und schaute in den Flur. Gewöhnlich wurden die Holztäfelung und die breiten Treppen von sanften Deckenstrahlern beleuchtet, doch heute war es stockdunkel. Entweder war Thomas nicht gekommen oder früh nach Hause gegangen und hatte mich vergessen. Vermutlich war ich eingeschlossen.
In meinem Inneren tobte ein Krieg: Sollte ich lachen oder weinen? Ich tat keins von beidem. Ich musste mir Kleidung aus dem Spind holen und ließ die Tür zum Studio offen, damit durch sie etwas Licht in die Umkleideräume fiel. Doch es war so dunkel, dass ich den Schlüssel niemals ins Schloss bekommen hätte. Also entschied ich, nach unten zu gehen und zu sehen, ob ich die Tür von innen öffnen könnte. Falls nicht, müsste ich mich wohl irgendwo auf dem Boden zusammenrollen und so die Nacht verbringen. Diese Vorstellung passte irgendwie zu meiner elenden, einsamen Stimmung. Ich dachte an mein Handy, das im Spind lag, aber es war ohnehin nicht aufgeladen. Ich hatte seit einer Woche keinen Blick darauf geworfen.
Ich ging den Flur entlang. Kurz vor der Treppe wurde es richtig dunkel, doch ich tastete mit der rechten Hand nach dem Geländer und suchte vorsichtig nach der nächsten Stufe. Und der nächsten. Und der nächsten.
Doch dann war da keine mehr. Jedenfalls konnte ich sie nicht mit meinen Zehen ertasten. Dann passierte etwas Seltsames in der Dunkelheit. Meine Muskeln, völlig übermüdet von einer Woche Strafübungen, versagten mir den Dienst. Sie reagierten nicht rechtzeitig. Mir fiel gerade noch ein, dass sich die Treppe genau hier nach links wandte, aber es war zu spät. Mein Körper stürzte.
Es ging furchtbar schnell, obwohl es mir in diesem Moment wie eine Ewigkeit vorkam und als beobachtete ich meinen Körper von außen. Ich schlitterte die Stufen hinunter und landete auf dem rauhen Teppich wie eine Puppe, die ein achtloses Kind fallen gelassen hat.
Der Schmerz kam nicht sofort. Also war es nicht so schlimm. Warum aber schlug mein Herz so heftig, als wüsste es mehr als mein Gehirn? Ich wollte aufstehen.
Mein rechtes Knie gab unter mir nach, als wäre es gar nicht mehr vorhanden. Der Schmerz stürmte von allen Seiten auf mich ein und ließ mich aufschreien. Das Gelenk schwoll an wie ein Ballon, der sich mit Wasser füllt.
Was habe ich getan? Was habe ich getan?
Das konnte nicht wahr sein. Mein Blut hämmerte in den Ohren, mir wurde übel. Ich brach zusammen, umklammerte mein Knie und rief in dem dunklen, verlassenen Theater um Hilfe.
[home]
Sechs
I ch zog von einem Spezialisten zum nächsten, Tag für Tag, und jeder sah mich mit einer unerträglichen Mischung aus Mitgefühl und Ernst an. Am Ende der ersten Woche hatte ich die Geschichte hundertmal gehört, am Ende der zweiten Woche tausendmal. Durch den Sturz hatte ich mir die Bänder gerissen. Nicht einer dieser Bänderrisse, die sich mit Kühlpacks und Ruhe beheben ließen. Die Bänder waren völlig zerfetzt. Der Schmerz ließ sich nur mit schweren Medikamenten lindern. Die Spezialisten murmelten mit finsterer Stimme etwas von einer »gemischten« Prognose. Ein orthopädischer Chirurg öffnete mein Knie und schloss es wieder, worauf er mich an einen Kollegen verwies. Diesmal wurde operiert, aber das Ergebnis fiel nicht »wie erhofft« aus.
Es dauerte drei Wochen – wegen der Schmerzmittel, des Schocks und der dämlichen Euphemismen, mit denen mich die Chirurgen bedachten –, bevor ich begriff, dass mein Knie irreparabel geschädigt war. Ich würde gehen können, obwohl der Schmerz mit den Jahren so stark werden könnte, dass ich ein künstliches Kniegelenk
Weitere Kostenlose Bücher