Der Wind der Erinnerung
brauchte. Was das Tanzen betraf … nun, das wäre nicht mehr möglich.
Meine Welt zerbrach.
Das Allerschlimmste war passiert, und ich war überrascht, dass das Leben trotzdem weiterging. Dass sich dieses Allerschlimmste in mein Leben einfügte, eben weil es weiterging. So wie der Verkehr, der vor meinem Fenster dahinströmte. So wie die Aufführungen von
Giselle,
die nun von einer jüngeren Tänzerin dargestellt wurde. Mein Herz hörte nicht auf zu schlagen, meine Lunge nicht auf zu atmen. In meiner Wohnung, in der die Vorhänge die sommerliche Helligkeit aussperrten, lebte ich weiter.
Ich sehnte mich nach dem Tanzen, sehnte mich so sehr danach, dass meine Brust schmerzte, manchmal sogar mehr als mein Knie. Ich war nicht bereit, mit dem Tanzen aufzuhören. Andererseits: Wäre ich jemals dazu bereit gewesen? Ich musste mir eingestehen, dass man mir zuletzt mit wachsender Vorsicht Rollen angeboten hatte, dass ich bei Probenbeginn eine kaum merkliche Steifheit in den Hüften spürte, dass ich entzündete Fußballen und Geschwüre zwischen den Zehen hatte, weil ich jahrelang solch unerbittliche Schuhe getragen hatte. Als ich letztes Jahr
Schwanensee
mit seinen endlosen
pas de bourrés
getanzt hatte, litt ich unter Krämpfen in den Beinen. Ich musste meine Füße kühlen, damit sie in die Schuhe passten. In Wahrheit wären mir vielleicht nur noch zwei oder drei Jahre als Profitänzerin geblieben. Manche tanzten ewig weiter, das wusste ich. Womöglich hätte ich nicht zu ihnen gehört. Doch wenn ich aufhörte, würde mir nichts bleiben. Nichts.
Wenn ich nachts nicht einschlafen konnte, weigerte ich mich, an diese Dinge zu denken. Stattdessen stellte ich mir vor, wie ich tanzte. Bislang konnte ich nur humpeln, hoffte aber, am Ende des Monats wieder gehen zu können. Und dann … warum sollte ich den Ärzten einfach glauben? Wenn ich gehen konnte, konnte ich laufen, wenn ich laufen konnte, konnte ich springen, wenn ich springen konnte, konnte ich tanzen. Vielleicht würde es ein oder zwei Jahre dauern oder …
Dann umklammerte ich in der Dunkelheit mein Kissen und fürchtete mich vor der Leere, die vor mir lag.
Mitte September packte ich Umzugskartons und verabschiedete mich von der Dachterrasse. Unter normalen Umständen wäre es schon schwer gewesen, allein die Miete zu bezahlen, aber im finanziellen Niemandsland zwischen meiner letzten Gehaltszahlung und dem Geld, das ich von der Versicherung erhalten würde, schien es unmöglich.
Zum Glück kam Adelaide, um mir zu helfen. Ich vermutete, dass sie ein schlechtes Gewissen wegen des Unfalls hatte. Hätte sie mich an jenem Abend gezwungen, nach Hause zu gehen, wäre ich nicht so lange geblieben und gestürzt. Aber ich gab ihr keine Schuld und auch nicht dem Hausmeister oder sonst jemandem. Mir war klar, was geschehen war: Ich hatte einfach furchtbares Pech gehabt und wartete nun angespannt wie eine sprungbereite Katze auf die nächste Katastrophe.
Denn die würde kommen. Ich hatte meinen Liebhaber verloren, meine Karriere, mein Zuhause. Was konnte noch schlimmer sein? Ich quälte mich mit der Angst vor Krebs, Autounfällen, Entführung, Terrorismus, Klimaerwärmung, der Gefahr einer neuen Eiszeit, der Auslöschung der menschlichen Spezies. Ich machte mir unablässig Sorgen. Damit beschäftigte ich mich in den langen Stunden, wenn die Wirkung der Schlaftabletten nachließ und es zu früh war, die nächste zu nehmen.
»Wo sind deine ganzen Bücher?«, fragte Adelaide. Sie hatte mir eine Einzimmerwohnung mit Hausmeisterservice in Holborn besorgt, wo ich wohnen sollte, bis ich etwas Neues fand. Erdgeschoss. Keine Treppe.
»Ich habe keine Bücher«, gestand ich und wickelte eine Auszeichnung in Papier ein. »Ich lese sie und gebe sie dann Oxfam. Sie nehmen so viel Platz weg.«
Adelaide gab sich entsetzt. »Wenn du ein Buch gelesen hast, gehört ihr ein Leben lang zusammen. Wusstest du das nicht?«
»Auch die zerfledderten?«
»Auch die zerfledderten.« Adelaide sah sich um. »Du hast überhaupt wenig … Sachen. Ich hatte mich auf Schwerstarbeit und eine Menge Staub vorbereitet. Dabei gehören dir nicht mal die Möbel, du musst nur die Kleidung mitnehmen und …«
»Ich weiß. Und meine Tanzpreise. Josh hat das auch immer gesagt. Einmal hat er mir einen Bilderrahmen gekauft und ein Foto von uns beiden eingelegt. Ich habe es umgestoßen. Das Glas ist zerbrochen, und ich habe es einfach in meine Nachttischschublade gelegt. Da müsste es immer noch
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