Der Wind der Erinnerung
liegen.« Na bitte, ich hatte über Tanzen und Josh gesprochen, ohne zu weinen. Aber nein, ich weinte ja doch.
Adelaide drückte meine Schultern. »Es wird schon.«
»Nein.«
»Natürlich.«
Ich deutete auf die Kiste mit den Auszeichnungen, deren schöne Umrisse sich unter dem weichen Papier abzeichneten. Dort drinnen lag mein Leben. Eingewickelt und bereit, für immer weggepackt zu werden. »Es ist, als hätte ich meinen Anker verloren. Ich habe meinen Freund verloren. Jetzt verliere ich auch noch meine Wohnung …«
»Musst du denn wirklich umziehen? Könntest du nicht noch ein bisschen warten?«
»Mir geht bald das Geld aus.«
»Das verstehe ich nicht, Em. Vor ein paar Jahren ist deine Großmutter gestorben, die Millionärin war. Hat sie dir nichts hinterlassen?«
»Nein. Und ich habe auch nichts gewollt oder erwartet, daher ist es mir egal.« Als Grandma starb, hinterließ sie ihrer Familie gar nichts. Von Kindesbeinen an hatte ich gewusst, dass meine Großeltern wichtige Leute waren: Grandma wegen ihrer Firma, Grandpa wegen seiner Arbeit im Parlament. Allerdings hatten sie ihren Reichtum nie zur Schau gestellt oder vergessen, was sie der Gemeinschaft schuldeten. Grandmas Firma gehörte heute den Aktionären, und ihr persönliches Vermögen war an sechzig australische Wohltätigkeitsorganisationen gegangen. Es war einer der Gründe, aus denen ich ungern nach Australien zurückkehren wollte. Meine Mutter und mein Onkel waren ungeheuer verbittert, obwohl beide Aktionäre und daher recht wohlhabend waren. Es hatte juristische Untersuchungen und endlose, nervenaufreibende Auseinandersetzungen gegeben. Nichts konnte eine Familie so gründlich zerstören wie der Tod einer reichen Verwandten. »Außerdem schaffe ich im Moment die Treppen nicht. Es ist schon besser, wenn ich ausziehe.«
Da klingelte es an der Tür.
»Ich gehe hin. Du brauchst nicht aufzustehen.«
Ich rechnete damit, dass der Umzugswagen eine Stunde zu früh eingetroffen war. Was ich nicht erwartete, war die Stimme meiner Mutter, die sich unten im Flur mit Adelaide bekannt machte.
Mein Herz tat einen Sprung, und ich versuchte, zu rasch aufzustehen. Mein Knie protestierte, ich musste mich wieder setzen. Dann war meine Mutter da und kam anmutig und aufrecht auf mich zu. Ihr seidig schimmerndes, dunkles Haar hatte sie im Nacken zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. Ich wusste, was es bedeutete, eine schöne Mutter zu haben. Als ich ein Teenager war und meine Mutter noch als professionelles Model arbeitete, klebte ich Fotos von ihr an den Frisierspiegel und staunte verblüfft und verzweifelt, wie unterschiedlich unser Teint, unsere Augen und unsere Münder waren. Dann riss ich die Fotos ab und übte eine Stunde lang, als müsste ich einen Dämon austreiben. Für eine Balletttänzerin zählte nur, dass sie durchtrainiert, fit und leicht genug war, um gehoben zu werden. Wäre ich so groß gewesen wie Louise Blaxland-Hunter, hätte das wohl kaum funktioniert.
»Mein Liebling«, sagte Mum und beugte sich vor, um mich zu umarmen. »Du siehst blass und müde aus.«
»Danke«, murmelte ich.
Mum kniete sich mühelos hin, das hätte ich nie geschafft. Die Verzweiflung schlug wie eine Welle über mir zusammen. »Lass mich dich ansehen.«
Ich warf einen Blick zu Adelaide, die nickte und leise das Zimmer verließ.
»War es deine oder Dads Idee?«
»Unsere. Aber ich habe es organisiert. Ich bin gekränkt …« Sie schmollte wie ein kleines Mädchen und klimperte mit den Wimpern, was bei einer Achtundfünfzigjährigen unpassend, bei meiner Mutter aber irgendwie reizend wirkte. »Zuerst wollte ich zu dir kommen. Meinem Baby. Aber dann habe ich gedacht, du würdest von selbst nach Hause kommen.« Sie stand auf und strich ihren Rock glatt. »Aber das hast du nicht getan. Jetzt bin ich hier, um dich mit nach Hause zu nehmen.«
»Ich komme nicht nach Hause.«
»Wieso nicht?«
Ich wollte schon antworten, aber ihre Frage erwischte mich auf dem falschen Fuß. Warum eigentlich nicht? Ich hatte wochenlang im Bett gelegen und mich elend gefühlt. Außerdem aß ich nicht richtig und schluckte zu viele Schmerzmittel. Ich hatte mich im Spiegel gesehen und gemerkt, dass das Licht aus meinen Augen verschwunden war. London hatte mir nichts mehr zu bieten. Wäre es denn so schlimm, zu Hause bei meiner Familie zu sein?
Meine Mutter spürte mein Zögern und schlug unerbittlich zu. »In Sydney haben wir einige der besten Spezialisten der Welt«, erklärte sie voller
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