Der Wind der Erinnerung
denken würde mich überwältigen und lähmen. Jetzt gehen. Die Beinmuskeln wieder aufbauen. In der Gegenwart leben, sich nicht von Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft niederdrücken lassen.
Dad arbeitete in seinem Eisenwarengeschäft. Er und Mum hatten nie geheiratet; darum trug ich auch den Doppelnamen meiner Mutter. Sie sprachen regelmäßig von einer »Besiegelung ihrer Liebe«, ein Gedanke, der mich verlegen machte und gleichzeitig rührte.
Auf und ab in der Diele.
Dann klopfte es.
»Onkel Mike!« Ich umarmte ihn zaghaft und betete im Inneren, er möge darauf verzichten, mich wie früher hochzuheben und im Kreis herumzuwirbeln. Er war ein Bär von einem Mann und berüchtigt für ulkige Begrüßungsrituale und Arschbomben im Schwimmbad.
»Em! Wie schön, dich zu sehen. Du siehst wunderbar aus. Die australische Sonne tut dir wirklich gut.«
Ich erwähnte nicht, dass ich das Haus nur mit Hut und Sonnenschutz verließ, da ich großen Wert auf meine Elfenbeinhaut legte. »Es ist schön, zu Hause zu sein«, sagte ich nur.
»Wie lange bleibst du?« Er schloss die Tür und ging, ohne auf eine Antwort zu warten, in die Küche. »Hat sich Hibberd schon bei dir gemeldet? Worum geht es eigentlich?«
Ich wusste nicht, wovon er sprach, aber bei Onkel Mike kam es öfter vor, dass nur er verstand, was er sagte. Ich folgte ihm langsam. Er holte sich gerade ein Bier aus dem Kühlschrank und stellte die Dose auf die marmorne Arbeitsplatte.
»Auch eins?«
»Mum!«, rief ich. Sie würde sicher wissen wollen, dass er hier war. Ob sie ihn sehen wollte, war eine andere Frage. »Besuch.«
Onkel Mike öffnete die Dose und lehnte sich gegen die Sitzbank. »Und, was hast du bekommen?«
»Bekommen?«
»Hibberd. Der Anwalt von Nana Beattie.«
»Nana Beattie. So habe ich sie nicht mehr genannt, seit ich acht war.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Schimmer, wovon du redest.«
»Himmel, du sprichst ja schon wie ein Tommy. Den Akzent müssen wir dir schnellstens austreiben.«
Ich hörte Schritte auf der mit Teppich ausgelegten Treppe. Mum eilte herbei, um mich zu retten. Als sie in die Küche kam, wirkte sie gelassener und glamouröser, als es beim Bügeln erlaubt sein sollte. Als sie Onkel Mike erblickte, spannte sie sich unwillkürlich an.
Da kam mir der Verdacht, dass sie mir nicht alles erzählt hatte.
»Mike«, sagte sie.
»Louise«, erwiderte er.
»Ich hatte dich doch gebeten, Emma ein bisschen Freiraum zu lassen.«
»Freiraum? Ich bin doch ihr Onkel. Ich wollte nur sehen, wie es ihr geht.«
»Lüg nicht. Ich weiß genau, warum du hier bist.«
»Jemand muss es ihr sagen. Du hast es offensichtlich nicht getan.«
»Du selbstsüchtiger Idiot. Meine Tochter hat zwei Operationen hinter sich, und man hat ihr gesagt, sie könne nie wieder tanzen. Alles andere kann jetzt warten.«
Onkel Mike schnaubte verächtlich. »Jetzt tu nicht, als wolltest du sie beschützen, Louise. Du willst es ebenso gerne wissen wie ich.«
Ich betrachtete den Wortwechsel mit wachsender Besorgnis. »Könnte mir jemand erklären, was los ist?«, fragte ich mit trockener Kehle.
Mum zwang sich zu lächeln. »Schon gut, wir können später darüber reden.«
»Ich begreife nicht, weshalb wir warten sollten«, sagte Onkel Mike. »Wir warten doch schon seit Jahren.«
»Jetzt bin ich aber neugierig. Ich will es wissen.«
Mum sah zu Onkel Mike. Ihre Nasenlöcher blähten sich, ein Zeichen dafür, dass sie sich nur mühsam beherrschte. »Wir trinken Tee im Garten. So etwas sollte man dann auch richtig machen.«
Natürlich vermutete ich, dass es etwas mit Grandmas Erbe zu tun hatte. Mum und Onkel Mike hatten sich nie ganz von dem Schock erholt, dass sie ihnen nichts hinterlassen hatte. War ich als Einzige bedacht worden? Es war kein Geheimnis, dass sie sehr an mir gehangen hatte. Zwischen uns hatte immer eine besondere Bindung bestanden. Manchmal hatte ich mich sogar gefragt, ob meine Mutter eifersüchtig gewesen war; ihre Beziehung zu Grandma war alles andere als einfach gewesen. Die Vorstellung, etwas zu erben, fand ich spannend, wenn auch nicht sonderlich aufregend. Eigentlich wollte ich nur wieder tanzen. Und vielleicht mit Josh zusammen sein, wenn auch nicht mit dem Josh, der mich betrogen hatte. Materielle Dinge hatten mir nie sonderlich viel bedeutet.
Es war später Nachmittag. In der Ferne brummte ein Rasenmäher, und die Luft war erfüllt vom Duft des frisch gemähten Grases. Als die Sonne sank und der blausamtene Himmel einen
Weitere Kostenlose Bücher