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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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Vorgeschmack auf den Abend bot, spürte ich wieder den pulsierenden Schmerz im Knie. Ich wartete auf Mum und Onkel Mike, die vermutlich miteinander stritten, während Mum die Teekanne füllte und die Tassen aufs Tablett stellte. Sicher brauchten sie deshalb so lange. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und streckte das verletzte Bein aus. Ein Vogelschwarm, kleine schwarze Punkte, schoss über mir dahin. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich, wenn es dunkel wurde, immer elend und hoffnungslos. Ich vermisste London, ich vermisste Josh, ich vermisste das Ballettstudio. Es war nicht schwer gewesen, die Schmerzmittel und Schlaftabletten abzusetzen, aber auf die anderen Dinge – jene Dinge, die mich so viele Jahre lang glücklich gemacht hatten – konnte ich nicht verzichten. Die Traurigkeit in mir wuchs, doch ich konnte sie nicht verbalisieren. Ich hatte mich immer durch meinen Körper ausgedrückt. Mein ganzes Erwachsenenleben lang, vielleicht auch schon früher, hatte ich meine intensivsten Gefühle in meine Muskeln und Sehnen geleitet und sie im Tanz herausgelassen. Jetzt blieben mir nur die Tränen, und die langweilten mich bis zum Erbrechen.
    Als ich aufblickte, sah ich Mum und Onkel Mike auf mich zukommen. Bildete ich mir das gierige Funkeln in ihren Augen nur ein? Sie waren verrückt. Kein Geld der Welt konnte mir mein Glück zurückkaufen; das hatte mir die Zahlung der Versicherung schon bewiesen.
    Mit einer routinierten Höflichkeit, die ihre Anspannung kaum überdeckte, setzten sie sich an den schmiedeeisernen Tisch. Mum schenkte mir und sich selbst Tee ein, während Onkel Mike beim Bier blieb. Wir machten Smalltalk. Es war, als betrachtete ich alles von außen. Schließlich fragte ich: »Wie viel?«
    Mum und Onkel Mike sahen einander an.
    »Ich begreife nicht, warum ihr es mir erst jetzt sagt.«
    »Wir wissen nicht, wie viel«, platzte Mum heraus. »Das ist es ja gerade. Mr. Hibberd meint …«
    »Wir konnten es dir nicht sagen, weil deine Nana Beattie eine blöde Bedingung ins Testament aufgenommen hat.«
    »Sie hat darauf bestanden, dass du nach Australien zurückkehren musst, bevor du irgendetwas bekommst. Oder auch nur von dem Erbe erfährst.« Mum rührte heftig in ihrer Tasse. »Es sollte ein Geschenk für deinen … Ruhestand sein.«
    Erinnerungen tauchten auf. Ich saß mit Grandma im Musikzimmer ihres großen Hauses in Point Piper.
Eine Ballerina kann nicht ewig tanzen.
Alles in mir sträubte sich.
    »Ich gehe nicht in den Ruhestand«, erwiderte ich heftig. »Ich will nichts von Grandma haben. Es ist ohnehin etwas Kleines. Sie hat ihr ganzes Geld für wohltätige Zwecke gegeben, damit müsst ihr einfach leben. Ich werde keine reiche Erbin sein. Ich werde mich erholen, und dann gehe ich zurück nach London und tanze weiter.«
    Auf meine Tirade folgte tiefes Schweigen. Onkel Mike, der gerade die Dose an den Mund führen wollte, hielt in der Bewegung inne. Am liebsten wäre ich davongestürmt. So aber musste ich mich vorsichtig von meinem Stuhl erheben und davonhumpeln.
    »Komm zurück, Em«, sagte Mum.
    »Sie soll sich erst mal abregen, Louise.«
    »Wir müssen wirklich darüber reden«, rief Mum.
    Doch ich drehte mich nicht um und schaute nicht zurück. Denn dann hätten sie meine Tränen gesehen.
     
    Ich schloss mich in meinem Zimmer ein. Wie damals mit vierzehn. Ich ging nicht hinunter, als ich Dads Auto in der Einfahrt hörte, und auch nicht, als es nach gebratenem Knoblauch roch, als Mum klopfte und durch die Tür fragte: »Isst du mit uns?«
    Mein Schweigen vertrieb sie.
    Als es Nacht wurde, setzte ich mich bei angelehntem Fenster aufs Bett, horchte auf das Zirpen der Grillen und den sanften Wind in den riesigen Kampferbäumen, die den Bach säumten, der parallel zur Straße floss. In der Ferne hörte ich die Autos auf der Schnellstraße. Es wurde dunkel und kühler. Ich schaltete nicht das Licht ein. Ich war wie gelähmt, als könnte ich nicht gleichzeitig nachdenken und mich bewegen. Doch eigentlich dachte ich gar nicht nach. Ich versuchte, gerade
nicht
zu denken.
    Ich hörte den Fernseher. Ich hörte Dad die Treppe heraufkommen und das Gluckern der Rohre im Badezimmer, als er unter die Dusche ging. Ich hörte, wie Mum die Haustür abschloss und das Licht ausschaltete. Ich hörte sie ins Bett gehen, leise Stimmen in der Dunkelheit. Sicher redeten sie über mich. Dass ich den Bezug zur Realität verloren hätte, mein Erbe nicht wollte und glaubte, ich könne wieder

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