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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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er ihm schuldete, und dem guten Willen, den er Henry schon bezeugt hatte. Die Schulden lasteten wie Blei auf ihm.
    Dennoch stand er auf und ging zu Billys Büro. Die Tür war immer offen. Billy arbeitete fleißig, da konnten die Leute reden, was sie wollten, und war ein anständiger Arbeitgeber. Zu anständig.
    Henry klopfte. Billy blickte auf und winkte ihn herein.
    »Was gibt es?«
    Henry fackelte nicht lange. »Lucy hat heute Geburtstag, und ich bekomme erst am Freitag Geld.«
    »Willst du einen Vorschuss?«
    »Ja.« Henry warf einen Blick auf die Brandykaraffe, die auf dem Schreibtisch stand.
    Billy nickte. »Nur zu. Für mich auch einen.«
    Henry gehorchte.
    »Großzügig bemessen für diese Tageszeit«, meinte Billy lachend und hob sein Glas.
    Henry kippte den Brandy hinunter. Schloss kurz die Augen, als sich die Wärme in seiner Brust ausbreitete.
    »Wie viel brauchst du?«
    »Fünf Shilling?«
    Billy holte die Münzen aus der Tasche und reihte sie auf dem Tisch auf. »Da hast du sie.«
    Henry sammelte sie ein. »Nimm das Geld einfach von …«
    »Ehrlich gesagt, Henry, sollte ich es lieber nicht von deinem Wochenlohn abziehen, dann bleibt nämlich nichts übrig.«
    Henry leckte sich über die Lippen. Das Schweigen dehnte sich aus.
    Billy goss ihm noch einen Brandy ein. »Ich fühle mich für dich verantwortlich, Mann. In Glasgow hast du immer gewonnen. Und wusstest, wann du aufhören musst. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber das Pech hat angefangen, als du deine Frau für das junge Ding verlassen hast. Molly hat dich im Zaum gehalten. Seit Beattie hast du jede Beherrschung verloren.«
    Die Münzen wurden warm in Henrys Hand. Er konnte sie nicht zurückgeben, jetzt nicht mehr. Sein kleines Mädchen hatte Geburtstag. Er hatte ihr seit Wochen ein Geschenk versprochen. Wie sollte er heute Abend ihr enttäuschtes Gesicht ertragen? Lieber wäre er blind.
    »Nimm einfach das Geld, Henry«, sagte Billy.
    »Zieh es von meinem nächsten Gewinn beim Kartenspiel ab.«
    Billy lächelte bitter. »Du gewinnst nicht oft genug, als dass ich mich darauf verlassen könnte, Mann. Egal, nimm es. Betrachte es als Geburtstagsprämie.«
    Henry bedankte sich überschwenglich und hasste sich, weil er so unterwürfig klang. So unmännlich.
    Nach der Arbeit ging er in die Stadt. Im Kolonialwarenladen konnte er kein Geschenk kaufen, weil er dort Schulden hatte. Die würde er erst bezahlen müssen. Beim Gehen bekam er einen klaren Kopf. Die Stadtmitte sah heutzutage deprimierend aus, lauter freudlose, verzweifelte Menschen, die um Arbeit oder Geld bettelten oder einfach die Nähe anderer freudloser, verzweifelter Menschen suchten, um sich nicht ganz so elend zu fühlen. Henry war stolz darauf, dass er eine richtige Stelle hatte. Beattie beschwerte sich ständig, hatte aber keine Ahnung, um wie viel besser es ihnen ging als diesen armen Menschen, deren hohle Augen ihm folgten, als er vorüberging. In den Geschäften gab er das ganze Geld aus, kaufte eine Puppe mit Porzellangliedern und echtem Haar und einen klebrigen Kuchen, leistete sich von dem übrigen Geld noch rasch einen Drink und machte sich auf den Heimweg. Das Tor kratzte über die Pflastersteine, als er es öffnete, und eine Sekunde später stand Lucy an der Tür. Sie trug ein Baumwollkleidchen, das ihre Mutter aus einem alten Hemd von Henry genäht hatte. Ein anderes Geschenk konnte sie ihr nicht geben.
    »Daddy, Daddy!«, rief sie und umklammerte sein Bein. »Hast du mir mein Geschenk mitgebracht?«
    »Drinnen, mein Schatz. Lass mich doch erst mal Atem holen.«
    Beattie stand am Herd und rührte in einer dünnen Suppe. Sie beachtete ihn kaum. Sie war wütend auf ihn. Sie war immer wütend auf ihn.
    »Nun denn.« Er setzte Lucy auf seinen Schoß. »Warst du auch ein braves Mädchen?«
    »Ja.«
    »Ich werde deine Mutter fragen. Ist sie heute ein braves Mädchen gewesen?«
    Beattie zwang sich zu einem Lächeln und strich dem Kind übers Haar. »Das bravste von allen.«
    Henry deutete auf die Päckchen auf dem Tisch. »Welches zuerst?«
    Lucy zeigte auf die kleine Schachtel, wobei ihre Finger vor Aufregung flatterten. Henry wickelte sie aus und öffnete den Deckel. »Kuchen!«, quiekte Lucy. »Kuchen, Mummy!«
    Beattie schaute ihn mit großen Augen an. »Wie viel hat er gekostet?«
    Henry antwortete nicht. Er gab Lucy das andere Päckchen und sah voller Freude zu, wie sie die Kordel löste, das braune Papier entfaltete und darin die Puppe fand. Plötzlich wurde sie ganz

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