Der Wind der Erinnerung
still.
»Gefällt sie dir?«
Ehrfürchtig berührte sie das seidige Haar der Puppe. »Ich werde sie ewig lieben.«
»Henry …«, sagte Beattie besorgt.
Henry brachte sie mit einer ärgerlichen Geste zum Schweigen. »Du wolltest, dass das Kind einen Kuchen und Geschenke bekommt. Also beschwer dich nicht.«
»Aber …«
Henry schob rasch den Stuhl zurück. Er konnte Beatties vorwurfsvolles Gesicht nicht ertragen. »Ruf uns, wenn das Essen fertig ist.«
»Können wir Kuchen essen?«
»Nein«, sagte Beattie, bevor Henry ihr zuvorkommen konnte. »Zuerst Abendessen, dann Kuchen.«
Henry ergriff die freie Hand des kleinen Mädchens. Mit der anderen hielt sie besitzergreifend die Puppe. Im Wohnzimmer vertiefte sie sich ins Spiel, während Henry im Sessel saß und ihr zuschaute. Sie plauderte mit ihrem Spielzeug und ließ Gesprächspausen, in denen die Puppe antworten konnte.
»Wie willst du sie nennen?«
»Wie heißt du noch mal? Wenn du nicht Daddy bist?«
»Henry.«
»Dann nenne ich sie Henry.«
»Das ist aber ein Jungenname. Wie wäre es mit Henrietta?«
»O ja. Das gefällt mir. Gefällt dir das auch, Henrietta?« Schweigen. »Gut, dann heißt du jetzt so.«
Behutsam legte Lucy ihre Puppe auf dem verschlissenen Sofa schlafen und hielt den Finger an die Lippen. »Pst, Daddy, sie muss jetzt schlafen.«
»Ich werde leise sein«, flüsterte er.
Sie kletterte auf seinen Schoß und schlang die Arme um seinen Hals. Ihr Gesicht war ganz nah an seinem, ihr Atem roch süß nach Milch. »Ich hab dich lieb, Daddy.«
»Ich hab dich auch lieb, meine Kleine.«
»Mummy hab ich auch lieb.«
Er schwieg.
»Aber dich habe ich lieber.«
Er versuchte, nicht zu lächeln. »Deine Mutter ist ein guter Mensch.«
»Manchmal ist sie traurig.«
»Ehrlich?«
»Gestern war sie traurig. Da ist ein Brief gekommen, und sie wurde ganz traurig. Sie hat nicht geweint, aber ich konnte es merken. Und dann hat sie mit mir Verkleiden gespielt, aber danach hat sie den Brief im Kamin verbrannt. Obwohl kein Winter mehr ist.«
Henrys Körper spannte sich an. Sie hatte einen Brief verbrannt? Wieso? Welchen Brief? Was wollte sie vor ihm verbergen? Dann fiel ihm das Schreiben ein, das er Molly vor Wochen im betrunkenen Zustand geschickt hatte. Hatte sie etwa geantwortet?
»Daddy?« Lucy sah ihn aus klaren grauen Augen an. Merkte sie eigentlich, wie viel sie ihm bedeutete?
»Mein Schätzchen«, sagte er und küsste sie sanft auf die Wangen. »Mach dir keine Sorgen wegen Mummy. Wenn du heute Abend im Bett bist, rede ich mit ihr und muntere sie auf.«
Beattie kam aus Lucys Kinderzimmer. Die Kleine war so aufgeregt gewesen wegen des Kuchens und der Puppe – sie hielt Henrietta fest im Arm, als sie im Bett lag –, dass Beattie ein Dutzend Lieder singen musste, bis sie einschlafen konnte. Zwar war sie erleichtert, dass ihre Tochter einen so schönen Geburtstag erlebt hatte, doch die Sorgen ließen sich nicht vertreiben. Von welchem Geld hatte Henry die Geschenke gekauft? Und wann mussten sie das alles zurückzahlen?
Sie traute ihm nicht mehr, fürchtete, er könne sie wieder schlagen. Dennoch musste sie erfahren, woher das Geld stammte und wie hoch ihre Schulden inzwischen waren. Sie schloss Lucys Zimmertür und ging ins Wohnzimmer. Henry saß nicht im Sessel, sondern lehnte am Kaminsims, den Kopf auf die Unterarme gelegt. Er starrte in den Kamin, in dem kein Feuer brannte.
Sie wartete lange, ob er sie bemerkte. Unendlich lange.
Dann blickte er hoch. »Welchen Brief hast du verbrannt?«
Die Frage kam unerwartet und erschreckte sie. Das Adrenalin ließ ihr Herz schneller schlagen. Ihre Augen wanderten zum Kamin. Wie hatte er davon erfahren?
Er las ihre Gedanken. »Lucy hat es mir erzählt. Immerhin streitest du es nicht ab. Vielleicht bist du nicht clever genug, um zu lügen.« Seine Worte waren beißend. Er richtete sich auf und kam näher. Sie stand wie angewurzelt da. Jetzt war er so nah, dass sie seinen leicht säuerlichen Schweiß riechen konnte, den Brandy in seinem Atem. Sein Gesicht war gerötet, die Bartstoppeln schimmerten im Licht der Lampe. Hatte sie ihn jemals begehrenswert gefunden? Was war aus ihrer verrückten Liebe geworden? Sie hielt still und wappnete sich gegen den Schlag, der gleich kommen würde.
»Von wem war der Brief?«, flüsterte er drohend.
War sie diesmal clever genug, um zu lügen? Nein. Denn wenn Molly noch einmal schrieb und sich erkundigte, weshalb er nicht geantwortet habe, wäre sie ohnehin
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