Der Wind der Erinnerung
Mikhail? Er ist aber früh dran.«
»Nein, nein.« Margaret drückte sie wieder auf ihren Stuhl. »Das ist bestimmt nicht dein Fahrer. Ich sehe mal nach.«
Margaret verschwand nach vorn. Beattie bemerkte, wie Lucy sie anstarrte.
»Was ist los?«
»Ich hab dich lieb, Mummy.«
»Ich dich auch.« Sie strich Lucy über das Haar. »Warum siehst du so verängstigt aus?«
»Aber ich habe ihn auch lieb.«
Einen Moment lang glaubte sie, Lucy spräche von Gott oder Jesus. Dann aber hörte sie die Stimme von draußen, und ihr Blut verwandelte sich in Eiswasser.
Henry!
Sie sprang auf und rannte zur Tür. Sie musste ihn aufhalten, bevor Lucy ihn sah. Margaret kam lächelnd mit ihm zusammen den Weg entlang.
Lächelnd!
Wie konnte sie es wagen? Wie konnte sie ohne ihr Wissen dieses Treffen arrangieren? Sie hätte ihr nie vertrauen dürfen, wo ihre Cousine doch gleich neben Henry wohnte. Schon vor Monaten hätte sie Margarets Haus verlassen sollen. All diese Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, als sie hinauseilte und den beiden in den Weg trat.
»Nein!«, schrie sie. »Dass du mir nicht in die Nähe meiner Tochter kommst.«
Henry lächelte freundlich. »Sie ist unsere Tochter, Beattie.«
Sie wandte sich an Margaret. »Warum musstest du dich einmischen? Du weißt doch, was für ein Mann er ist.«
»Ich weiß, was für ein Mann er
war
«, sagte Margaret mit einem frommen Nicken. »Aber ich habe von Doris erfahren, was für ein Mann er in den letzten Monaten
geworden ist.
Du hast nichts zu befürchten.«
Beattie war so wütend, dass sie Margarets Worte gar nicht erfasste. Sie stand wie angewurzelt da, die Arme ausgestreckt, um Henry den Zutritt zum Haus zu verwehren.
Er sagte mit sanfter Stimme: »Beattie, ich werde heute nicht zu Lucy gehen, wenn du es nicht willst. Ich wollte ohnehin mit dir sprechen. Gehst du ein Stück mit mir? Weg vom Haus? Wirst du dir meine Geschichte anhören?«
Lucy. Lucy
wusste Bescheid.
Das hatte sie vorhin gemeint. »Du hast sie schon gesehen, oder?« Sie ließ resigniert die Arme sinken.
»Ich war dreimal zu Besuch.«
Beattie warf Margaret einen kalten Blick zu, doch diese zuckte nur mit den Schultern.
»Ich gehe ins Haus und kümmere mich um das Kind. Ihr beide könnt in Ruhe miteinander reden.«
Henry ergriff sanft Beatties Arm und führte sie zum Tor hinaus. Auf der Straße parkte ein glänzender neuer Ford, der nur ihm gehören konnte.
»Wie kannst du dir ein Auto leisten?«
»Bei mir hat sich einiges verändert.« Er ging mit ihr am Wagen vorbei. »Ich arbeite jetzt für die Regierung. Im Verkehrswesen. Ich bekomme jede Woche ein gutes Gehalt und gehe vernünftig damit um.«
Es war ein kühler Morgen, von Westen her blies ein frischer Wind Wolken herbei. Beattie hatte ihre Jacke vergessen und spürte die Gänsehaut unter den Ärmeln ihrer Bluse. Sie musste gezittert haben, denn Henry zog sofort das Jackett aus und hängte es ihr um die Schultern.
Sie war verblüfft und auch ein bisschen ängstlich.
»Wo entlang?«
Sie führte ihn zur Hauptstraße. »Du arbeitest also nicht mehr für Billy?«
»Nein. Und ich schulde ihm kein Geld mehr und wohne nicht mehr zur Miete in seinem Häuschen. Doris und ich sind allerdings befreundet geblieben. Der erste Schritt war, den Bann zu brechen, den er über mich ausübte, und dieses Leben für immer hinter mir zu lassen.«
Beattie warf ihm verstohlene Blicke zu. Er schien die Wahrheit zu sagen: Haut und Augen wirkten gesund, er war gut genährt und kräftig. Auch die Kleidung sah gepflegt aus. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher.
»Wohin wollen wir gehen?«
»Zum Bach hinunter. Dort gibt es einen großen, flachen Felsen, auf dem ich manchmal mit Lucy sitze. Dann erzählen wir uns Geschichten.«
Er folgte ihr gehorsam. Beattie überdachte die Situation. Was wollte er von ihr? Er war sauber, nüchtern und wohlhabend zurückgekommen: Wollte er sie und Lucy holen? Wäre das so furchtbar schlimm?
Schließlich gelangten sie zum Bach und dem Damm, an dem sie Lucy beinahe verloren hatte. Der Bach floss gurgelnd vorbei, die Wolken wurden dunkler.
»An dem Tag, an dem ich dich verlassen habe, gab es ein Gewitter. Lucy und ich sind meilenweit im Regen gelaufen. Dann kamen wir zu diesem Damm, und er war überflutet. Wir wollten hinüber, doch Lucy wurde fortgerissen. Ohne einen hilfsbereiten Mann, der gerade vorbeikam, wäre sie sicher ertrunken.«
Henry wurde blass. »Und es wäre alles meine Schuld gewesen.«
Beattie nickte.
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