Der Wind der Erinnerung
Angst und Bedauern in ihrer Brust. »Die Antwort ist ja.«
Als Mikhail sie an diesem Abend abholte, hustete er und spuckte in sein Taschentuch.
»Bist du krank?« Eigentlich erwartete sie keine Antwort.
Er steckte das Taschentuch weg und fuhr los. Unterwegs hustete und nieste er und sah sehr elend aus. Beattie war meist in ihre eigenen Gedanken vertieft – am nächsten Sonntag würde Henry Lucy zum ersten Mal abholen –, empfand aber trotzdem Mitleid mit Mikhail. Es war schlimm, wenn man krank war, vor allem, wenn man allein lebte so wie er.
Er setzte sie an der Tür ab. Sie stieg aus und lehnte sich zum Beifahrerfenster hinein. »Kann ich dir etwas bringen?«
Er sah sie ausdruckslos an. Sie tätschelte seinen Arm. »Egal. Ruh dich aus.«
Sie war eine Weile beschäftigt. Raphael dinierte mit seinem Anwalt und zwei anderen Herren, die sie nicht kannte. Nach dem Hauptgang machte sie eine Pause, und Alice übernahm das Servieren. Wie üblich bereitete sie sich selbst eine kleine Mahlzeit zu und wollte sich gerade hinsetzen, als ihr Mikhail einfiel.
Vor ihr standen Rindfleischsuppe und warmer Toast mit Butter. Das perfekte Essen für einen Kranken.
»Alice, ich bringe das zu Mikhail. Er ist krank.«
»Die Mühe würde ich mir sparen. Er wird sich nicht bei dir bedanken.«
Beattie war schon aufgestanden und holte ein Tablett. »Jeder, der krank ist, freut sich, wenn man sich um ihn kümmert.« Sie stellte das Essen auf das Tablett, ging die Treppe hinunter durch die Waschküche und über die taunasse Koppel zum Schererhäuschen.
Im Augenblick wohnte Mikhail allein in dem alten Holzhaus – Alice hatte ein Zimmer im Wohnhaus –, doch in etwa sechs Wochen würde hier ein halbes Dutzend Scherer aus ganz Tasmanien unterkommen, die während der Schafschur von einem Anwesen zum nächsten zogen.
Beattie öffnete den Riegel und trat ein. Sie ging durch das große Wohnzimmer, vorbei an der kleinen Kochecke, und sah, dass unter einer Tür Licht hindurchschimmerte. Sie klopfte an.
Einen Moment später stand Mikhail verschlafen vor ihr.
»Ich habe dir Essen gebracht. Suppe und Toast.«
Sein Gesicht wurde weicher. Er öffnete die Tür und ließ sie eintreten. In seinem Zimmer standen ein schmales Bett und ein Tisch mit einem einzigen Stuhl. Es war ein großer Raum, der drei oder vier Schlafsäcken Platz geboten hätte, und ihre Schritte hallten von den kahlen Wänden wider. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und wollte schon gehen, als Mikhail sagte: »Warte einen Moment.«
Sie starrte ihn an. Noch nie hatte Mikhail mehr als ein einziges Wort gesprochen.
Er holte den Stuhl und bot ihn ihr an, während er sich mit dem Tablett aufs Bett setzte.
Sie nahm Platz und wartete.
»Vielen Dank, du bist sehr freundlich.«
»Ich wusste nicht, dass du Englisch sprichst.«
»Ich bin nicht dumm. Wohne jetzt hier fünf Jahre. Ich höre alles. Aber ist leichter, wenn Mr. Blanchard denkt, ich nicht verstehe.«
»Weiß Alice Bescheid?«
Er nickte.
Beattie lächelte. »Mich hast du jedenfalls zum Narren gehalten.«
Er lächelte zurück. Es war das erste Mal, und es verwandelte sein ganzes Gesicht. Es sah nicht mehr aus wie aus Stein gemeißelt. »Ja, ich halte dich zum Narren.« Er deutete auf die Suppe. »Hast gutes Herz.«
Beattie sah auf das Essen, und ihr fiel ein, dass sie selbst noch gar nichts zu sich genommen hatte. Mikhail schien ihre Gedanken zu lesen und bot ihr ein Stück Brot an. Sie nahm es dankbar entgegen.
»Warum findest du es leichter, wenn Mr. Blanchard glaubt, du könntest kein Englisch?«
»Sonst erwartet zu viel. Er will reden und hört nicht auf. Wird mir etwas anhängen. Macht er mit allen Leuten.«
Beattie musste an ihre eigenen Probleme mit Raphael denken. »Alice scheint ganz gut mit ihm zurechtzukommen.«
»Da ist sie aber auch die Einzige. Alle anderen werden im ersten Jahr gefeuert. Ich spreche nicht mit ihm, er spricht nicht mit mir, ich habe noch Arbeit. Arbeit finden ist schwer. Will sie behalten.«
»Ich verstehe.« Sie musste an Charlie denken, der Lucy vor so vielen Monaten gerettet hatte. »Ich bin einem Mann namens Charlie begegnet, es war an meinem ersten Tag in Lewinford. Er wollte gerade die Stadt verlassen …«
»Charlie Harris. Guter Mann.«
»Ich hörte, er habe Raphael bestohlen.«
Mikhail schüttelte den Kopf und schlürfte die Suppe vom Löffel. »Charlie war kein Dieb. Sie sagen, hat Manschettenknöpfe gestohlen! Was soll Charlie mit Manschettenknöpfen?
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