Der Wind über den Klippen
behauptet, das wären bloß Investoren, die mit den Lacken, die die Firma verkauft, nichts zu tun hätten. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Irgendein Scheißgift ist jedenfalls in der Farbe. Was, wenn Harri das Versteck gefunden hat? Er konnte ja ein bisschen Russisch.
Vielleicht hat er begriffen, dass Vater unter der Hand irgendwelche verdammten Giftlacke verkauft hat, und Vater hat ihn deshalb umgebracht?«
Jiris Gesicht war jung und verletzlich. Es musste schlimm für ihn gewesen sein, mit dem Gedanken zu leben, dass sein Vater nicht nur ein rücksichtsloser Opportunist war, der die Umwelt zerstörte wie alle anderen auch, sondern womöglich einen Mord begangen hatte.
»Hattest du deinen Vater schon damals in Verdacht, als Harri starb?«
Bei dieser unverblümten Frage heulte Jiri beinahe auf, er sah mich nicht an, als er antwortete:
»Ich hab damals darüber nachgedacht. Vater war in der Nacht nicht zu Hause. Er behauptete, er wäre geschäftlich in Tallinn gewesen und früh um sieben mit der Fähre zurückgekommen. Er hatte massenhaft Champagner und Kaviar für Muttis Geburtstag mitgebracht. Dabei mag sie gar keinen Kaviar! Über Vaters Reisen hat keiner so genau Buch geführt, er war mindestens einmal im Monat in Tallinn, weil die Firma immer mehr Kunden in Estland hat. Er kann genauso gut auf Rödskär gewesen sein.«
»Aber euer Boot … Deine Mutter hätte doch gemerkt, wenn es nicht am Steg gelegen hätte.«
»Im letzten Herbst lag es noch in Suomenoja. Vater hat unser Ufer erst im Frühjahr ausbaggern lassen.«
Ich spürte plötzlich einen bohrenden Schmerz im Hinterkopf.
Die Farbdose musste schleunigst ins kriminaltechnische Labor.
Und Anne Merivaara musste noch einmal zu Harris Tod vernommen werden, der sie ganz offensichtlich bedrückt hatte.
Vielleicht hatte sie keinen Selbstmord vermutet, sondern Mord.
Hatte sie womöglich gewusst, dass Juha in der fraglichen Nacht auf Rödskär gewesen war?
Konnte es sein, dass Anne ihren Mann umgebracht hatte, um Harris Tod zu rächen? Wahrscheinlich fürchtete Jiri insgeheim, dass beide Eltern zu Mördern geworden waren.
»Die Farbdose kann sehr wichtig sein. Interpol fahndet bereits nach den mysteriösen litauischen Aktionären. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie in unsaubere Geschäfte verwickelt. Aber das heißt nicht unbedingt, dass dein Vater und vor allem deine Mutter an kriminellen Handlungen beteiligt waren«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
»Alle kriminell. Und ich dachte, ich wäre der Einzige.« Jiri versuchte wieder, den harten Mann zu markieren, doch das verzweifelte Nägelkauen machte seinen Auftritt zunichte.
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Sie schuftet die ganze Zeit und kann nicht schlafen. Nachts geht sie durch das Haus und trinkt Kamillentee, aber der hilft nicht. Die Schlaftabletten, die Tapsa ihr gegeben hat, will sie nicht nehmen. Und Riikka will Tapsa nicht mehr sehen. Ich glaube, sie …« Er zögerte, dann sah er mir direkt ins Gesicht und schrie beinahe: »Sie glaubt wahrscheinlich, dass Tapsa Vater umgebracht hat! Sie hat mir erzählt, er hätte eine Verletzung am Arm, angeblich von der Schlägerei in der Sauna, aber Riikka erinnert sich genau, dass die Wunde noch nicht da war, als sie in der Nacht gebumst haben, erst am nächsten Morgen.«
Mir schwirrte der Kopf. Lacke, tote Vögel und unerklärliche Wunden. Ich musste unbedingt eine Weile allein sein, deshalb log ich Jiri an, ich hätte in fünf Minuten einen Termin, und dankte ihm für seine Hilfe. Er brachte sogar ein vorsichtiges Lächeln zustande, als ich ihm zum Abschied die Hand gab.
Der Himmel war bewölkt, es war ein grauer Tag. Ich knipste das Licht aus, legte mich aufs Sofa, schloss die Augen und versuchte mich zu entspannen. Bei den Zehenspitzen fing ich an.
Doch es gelang mir nicht, meine Gedanken zu ordnen. Die Einzelheiten des Falls Merivaara und Pertsas zerstörtes Gesicht drehten sich in meinem Kopf wie ein außer Rand und Band geratenes Karussell. Nein, es hatte keinen Zweck. Inzwischen war es schon Viertel nach drei, und ich hatte in letzter Zeit so viele Überstunden gemacht, dass ich guten Gewissens nach Hause fahren konnte. Nur noch einen Moment liegen bleiben …
Offenbar war ich eingenickt, denn ich schreckte plötzlich auf, als es klopfte. Im selben Moment steckte Koivu den Kopf zur Tür herein.
»Sorry. Hältst du Mittagsschlaf?«
»Komm rein«, sagte ich müde. Ich hatte den Geschmack von ausgelutschtem Kaugummi im
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