Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
Vom Netzwerk:
hatte, sagte er kein Wort. Also schaltete ich den Computer ein, rief die Akte Juha Merivaara auf und las sie von vorn bis hinten durch. Dann kramte ich die Salmiaktüte hervor, stopfte zwei Stück auf einmal in den Mund und hielt Jiri die Tüte hin. Er beäugte sie misstrauisch – dem Aufdruck nach enthielten die Salmiakdrops drei Zusatzstoffe –, nahm dann aber doch einen. Nachdem er eine Weile darauf herumgekaut hatte, fing er an zu reden.
    »Ich hab gelogen über die Nacht, als Vater starb. Ich hab nicht die ganze Zeit gepennt. Einmal war ich pinkeln, und auch sonst hab ich unruhig geschlafen. Der Streit zwischen Vater und Tapsa hat mir zugesetzt. Es ging den Alten doch nichts an, mit wem Riikka vögelt! Immer wollte er kommandieren!«
    Jiris Augen glühten mit seinen Wangen um die Wette. »In dem kleinen Zimmer hört man alles, was der andere tut. Mikke war einmal draußen, oder jedenfalls auf dem Flur. Ich hab gehört, wie er mit seiner Mutter gesprochen hat.«
    »Mit Katrina Sjöberg?«, fragte ich überrascht. Weder sie noch ihr Sohn hatten die nächtliche Begegnung erwähnt.
    »Es wurde schwedisch gesprochen, also muss es Katrina gewesen sein.«
    »Um welche Zeit war das?«
    »Ich hab nicht auf die Uhr geguckt. Es war noch ganz dunkel.
    Aber ich weiß nicht … Ich glaub nicht, dass sie nach draußen gegangen sind. Also hat sicher keiner von ihnen … Vati umgebracht …«
    Jiri wurde rot und verhaspelte sich immer mehr. Ganz offensichtlich wollte er weder Mikke noch Katrina direkt verdächtigen, und ich fragte mich, ob er sich die ganze Geschichte ausgedacht hatte, um die Aufmerksamkeit von jemand anderem abzulenken. Fürchtete er, seine Mutter hätte den Mord begangen?
    »Und noch was. Riikka und Tapsa haben ja im Nebenzimmer geschlafen, meine Mutter hat sie immer möglichst weit von ihrem eigenen Zimmer untergebracht, als hätte sie Angst zu hören, was die beiden miteinander treiben. In dem Zimmer ist nachts auch jemand aufgestanden und rausgegangen. Den Schritten nach war es Tapsa, Riikka tritt leiser auf. Die Einzigen, die ich definitiv nicht gehört habe, sind Mutter und Riikka.«
    Etwas in der Art hatte ich erwartet. Ich wechselte das Thema und fragte nach Harri Immonens Verbindung zur Revolution der Tiere.
    »Harri bei der RdT? Bestimmt nicht. Der war doch schon ziemlich alt, bei unseren Aktionen ist keiner über zwanzig.«
    Ich nickte. Die direkte Aktion, der sich die Revolution der Tiere verschrieben hatte, schien zu einem pazifistischen Einzel-gänger wie Harri ohnehin nicht zu passen. Aber irgendeine Verbindung musste er zu der Organisation gehabt haben, sonst wäre er nicht auf der Observationsliste der Sicherheitspolizei gelandet. Ich bat Jiri, noch einmal genauer darüber nachzudenken, doch er schien sich eher für den Inhalt seines Rucksacks zu interessieren als für Harri. Er wühlte zwischen einem Pullover und einem Netzbeutel Möhren herum, bekam das Gesuchte offenbar zu fassen, zog es aber nicht heraus.
    »Harri war ein netter Kerl, er hat keinem dreingeredet. Die RdT-Aktionen fand er nicht immer richtig, aber wenigstens hat er versucht zu diskutieren. Ich denk oft, warum war Vati nicht so wie Harri oder Mikke, warum hat er nie zugehört, sondern einen immer mit seiner Meinung überfahren.«
    Ich wunderte mich über Jiris Redseligkeit und Kooperations-bereitschaft. Hatte die Sicherheitspolizei ihm einen Schrecken eingejagt? Oder die Tatsache, dass das Feuer in der Fleischfabrik die Tieraktivisten beinahe zu Mördern gemacht hatte?
    Vielleicht wirkte ich im Vergleich zu den Ermittlern der Sicherheitspolizei sanft und verständnisvoll, wer weiß.
    »Jetzt erinnere ich mich, Harri war mal auf einer Demo gegen Tierversuche dabei«, sagte Jiri plötzlich. »Er hat mit mir Flugblätter verteilt, und ein paar Schlipsträger haben gebrüllt, es wäre eine Schande für einen ausgewachsenen Mann, mit diesen Öko-Mädchen gemeinsame Sache zu machen.« Er verzog das Gesicht. »Als dürften nur Frauen sich für Tiere einsetzen! Vater war allerdings auch verblüfft, als er gehört hat, dass ich Harri kenne. Er hat versucht, ihn nach seiner politischen Überzeugung auszufragen, aber Harri hat sich auf keine Diskussion eingelassen. Vielleicht hatte er Angst, gefeuert zu werden.«
    Wieder steckte Jiri die Hand in den Rucksack, während ich überlegte, wieso er mir verändert vorkam. Er redete so engagiert wie früher, auch seine aggressive Verschlossenheit war noch zu spüren, doch er wirkte weniger

Weitere Kostenlose Bücher