Der Wind über den Klippen
Promillewert war. Und wenn bei der Obduktion festgestellt wurde, dass er infolge eines Herzinfarkts vom Felsen gestürzt war, konnte ich den Fall ohnehin zu den Akten legen.
Aber die Prellungen am Kopf waren eigenartig, das hatte auch Koivu gesagt. Wie mochte es ihm übrigens auf dem Segelboot ergehen? Meines Wissens war er eine hundertprozentige Landratte, und wenn Mikke Sjöberg ihm keine Öljacke geliehen hatte, hockte er vermutlich in der Kajüte, wo man leicht seekrank wurde.
»Wann bist du gestern Nacht schlafen gegangen?«
»Um zwölf nach eins. Ich weiß es auf die Minute genau, weil ich noch überlegt habe, wann ich das letzte Mal so lange aufgeblieben bin. Ich führe sonst ein sehr geregeltes Leben, gehe um halb elf schlafen und stehe kurz nach fünf wieder auf.«
Auch Katrina Sjöberg nahm an, dass Juha Merivaara um die gleiche Zeit zu Bett gegangen war wie sie selbst. Sie dachte eine Weile nach, bevor sie hinzufügte:
»Ich habe sehr unruhig geschlafen, erstens, weil ich Alkohol getrunken hatte, und zweitens, weil ich es nicht gewöhnt bin, ein Zimmer mit einer Fremden zu teilen. Gegen drei hat sich im Gebäude etwas gerührt, wahrscheinlich ist jemand zur Toilette gegangen. Und kurz danach habe ich Motorengeräusche gehört.«
»Einen Motor hast du gehört? Meinst du, ein Boot hat auf der Insel angelegt?«
»Ich weiß es nicht. Es ist ja eher unwahrscheinlich, in stockdunkler Nacht und bei dem Regen. Aber das Geräusch schien merkwürdig nah.«
Wenn in der Nacht tatsächlich ein Außenstehender auf Rödskär angelegt hatte, ergab sich eine ganz neue Situation. Ich beschloss jedoch, mich vorläufig auf diejenigen zu konzentrie-ren, die sich mit Sicherheit auf der Insel aufgehalten hatten. Als Nächstes fragte ich Katrina nach dem Verhältnis zwischen ihrem Stiefsohn und dessen Frau.
»Tja … Ich weiß nicht, ob ich die Richtige bin, das zu beurteilen. Da die Ehe mehr als zwanzig Jahre gehalten hat, muss sie wohl einigermaßen gut gewesen sein. Allerdings hat sich Anne in den letzten Jahren verändert. Früher war sie meiner Meinung nach eine ganz normale kleine BWL-Studentin, die glücklich war, sich einen reichen Erben geangelt zu haben. Allerdings hat sie nie das Luxusweibchen gespielt, sondern die ganze Zeit in der Firma mitgearbeitet, abgesehen von kurzen Babypausen.
Aber in den letzten Jahren ist sie irgendwie härter und tiefgründiger geworden, als sähe sie die Dinge aus einer neuen Perspektive. Die ökologischen Bootslacke waren sicher Annes Idee, und die radikale Einstellung ihrer Kinder zum Umweltschutz hat offenbar auch auf sie abgefärbt. Ich glaube, in weltanschaulichen Fragen gab es Differenzen zwischen den beiden. Natürlich waren die Natur und das Meer auch Juha wichtig, das liegt uns Sjöbergs im Blut, aber wir sind keine Idealisten.«
Sie trank ihre Tasse leer und goss sich aus der Thermoskanne nach.
»Jetzt merke ich, wie müde ich bin«, sagte sie, als sie einen Teil des Kaffees auf die Untertasse verschüttete. »Dauert es noch lange?«
Der Ausdruck auf ihrem vom Wetter und von den Jahren gegerbten Gesicht veränderte sich ständig, jetzt wirkte es wieder erschöpft, die Lachfältchen waren zu Altersrunzeln geworden.
»Wo wirst du übernachten?«
»Eine gute Frage. Normalerweise quartiere ich mich immer bei Mikke ein, aber das geht diesmal wahrscheinlich nicht.
Wenn er länger unterwegs ist, vermietet er seine Wohnung, und die Mieter sind sicher schon eingezogen. Anne hätte Platz genug, aber zu ihr möchte ich nicht. Sie und die Kinder sollen in Ruhe trauern. Vielleicht ist es das Klügste, auf meinen Sohn zu warten. Wenn wir nirgendwo unterkommen, können wir immer noch auf der ›Leanda‹ schlafen. Wann darf ich nach Hause fahren?«
Jetzt hatte sie wieder eine verschmitzte Miene aufgesetzt, ihre Augen strahlten wie die einer Zwanzigjährigen.
»In ein paar Tagen, nehme ich an. Eine Frage noch: Dein Sohn Mikael hat ein Viertel der Merivaara-Aktien geerbt, Juha hielt nach dem Tod seiner Eltern dreiviertel. Ist die Verteilung heute noch die gleiche?«
Katrina Sjöberg schüttelte den Kopf.
»Mikke hat seinen Anteil schon vor Jahren an Juha verkauft.
Er hat am Polytechnikum Schiffsbautechnik studiert und auch Examen gemacht, aber eigentlich interessiert er sich nur für das Segeln. Die heutigen Besitzverhältnisse kenne ich nicht so genau. Juha hat immer noch die Aktienmehrheit, aber er ist nicht der einzige Teilhaber. Mikke hat seine Aktien zur Zeit der
Weitere Kostenlose Bücher